Glückfindungsstörungen

Zonenkinder auf der Flucht: „Wie viel Vögel“, der erste Erzählband der Leipziger Literaturinstitutsabsolventin Franziska Gerstenberg

Carlos Santana geht auf die Sonderschule. Er ist 16 Jahre alt, trägt einen Jogginganzug mit glänzenden Streifen und wird ziemlich schnell wütend. Natürlich handelt es sich hier nicht um den echten Carlos Santana, sondern um einen autistischen Jungen, der sich für den mexikanischen Musiker hält und ausflippt, wenn man ihn mit seinem bürgerlichen Namen Anton anspricht.

Alles läuft prima, bis die Eltern mit Anton nach Ostdeutschland in eine Reihenhaushälfte ziehen und im Vorgarten ihren Grill aufbauen. Zunächst wird die grillfreundliche Jogginganzugfamilie argwöhnisch von der benachbarten grillfeindlichen beobachtet. Schon bald erkennen sie aber Gemeinsamkeiten: Die Väter streichen sich über ihre Schnurrbärte und die Mütter fachsimpeln über Hochsteckfrisuren und Kochrezepte. Abends tischen sie sich gegenseitig Schweinebraten und Bratwürste auf, machen auf Kulturaustausch und zelebrieren ihr Spießertum. Irgendwann hat Anton genug von der Verbrüderung zwischen Ost und West und haut ab.

Er wird nicht weit kommen, wie alle Figuren in Franziska Gerstenbergs Erzählband „Wie viel Vögel.“ Die Flüchtenden, die durch ihre Geschichten stolpern, können sich noch so sehr anstrengen, immer bleiben sie irgendwo stecken. Obwohl Anton der einzige offizielle Autist ist, wirkt das Personal leicht gestört. Sie heißen Jorinde und Konz, Marthe, Marianna und Merten, zeichnen sich durch eine starke Ichbezogenheit aus und scheinen mit ihren Gedanken immer woanders zu sein. Sie trennen sich von Freunden, Gewissheiten und überholten Lebensvorstellungen, ohne eine echte Alternative parat zu haben.

Anstatt ihre Probleme zu lösen, laufen sie davon: Sie steigen zu Fremden ins Auto, flüchten auf Kinderfahrrädern und versuchen unangenehmen Situationen zu entkommen, indem sie Luftgitarre spielen oder sich vom Fernsehen in andere Welten entführen lassen. Es sind Reisende ohne Ziel, immer auf der Suche nach einem großen Glück, das sie nicht artikulieren können. Und wenn sie doch einmal etwas sagen, dann Sachen wie: „Du erzählst gar nichts!“, oder: „Ich kann es dir nicht erklären.“

Franziska Gerstenberg, 1979 in Dresden geboren, hat am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert und zwei Jahre lang als Redakteurin die Literaturzeitschrift Edit betreut. Ihre Geschichten sind in Anthologien wie „20 unter 30 – Junge deutsche Autoren“ oder „Der wilde Osten“ erschienen und mit mehreren Preisen und Stipendien ausgezeichnet worden. Sie ist das, was Jana Hensel ein „Zonenkind“ genannt hat, jemand, der wenige Erinnerungen an die DDR hat, dafür aber umso mehr an die Zeit danach.

Subtil fängt sie das Lebensgefühl der Menschen ein, die in der neuen Freiheit auf alte Grenzen stoßen. Ihre Figuren wollen sich alle Möglichkeiten offen halten und trauen sich deshalb nicht, Bindungen einzugehen. Das ist gut und treffend beobachtet. Die märchenhaften Namen und die Sprachlosigkeit ihrer Figuren erzeugen mitunter aber auch eine Distanz. Manchmal möchte man die Darjas, Violettas und Bjarnes schütteln, dass wenigstens etwas aus ihnen herauskommt, ein paar Worte nur, die Klarheit schaffen, oder eine Regung, die sie menschlicher erscheinen lässt.

In jeder der 15 Erzählungen entwickelt Franziska Gerstenberg eine beklemmende, klaustrophobische Atmosphäre. Ihr Thema ist die soziale Enge, die Tyrannei der Intimität, die sich in unterschiedlichen Ausprägungen zeigt: Hecken werden zu Mauern, Wohnungen zu Gefängnissen, Stulpen zu schlanken Fesseln. Hinter einem scheinbar geordneten Alltag tun sich albtraumhafte Abgründe auf. Die Figuren haben Geheimnisse, die sich erst allmählich entfalten. Sie sind gehemmt, verdrängen ihre Trauer ebenso wie ihre Leidenschaften, bis sich die aufgestauten Gefühle gewaltsam entladen.

Beschrieben wird oft nur die Oberfläche. „Man sieht nicht hin, wenn etwas selbstverständlich ist“, heißt es einmal. Franziska Gerstenberg versucht, mit einer verstörenden Präzision und Detailverliebtheit das Selbstverständliche wieder sichtbar zu machen. Und sie hat die richtige Stimmung gefunden, um die Brüche und Widersprüche ihrer Figuren authentisch darzustellen. Es sind kühle, sachliche Geschichten, die trotz mancher Komik ein Unbehagen provozieren und einen auch nach dem Lesen nicht zur Ruhe kommen lassen.

JAN BRANDT

Franziska Gerstenberg: „Wie viel Vögel“. Erzählungen, Schöffling, Frankfurt am Main 2004, 230 Seiten, 18,90 Euro