Folgenreiche Wendepunkte

„Wir waren eine amorphe Eventualität“: Die Erinnerungen des 2003 verstorbenen Kulturjournalisten und Musil-Herausgebers Adolf Frisé

VON OLIVER PFOHLMANN

Lebensläufe bestehen aus Wendepunkten, sagte einmal Niklas Luhmann, „an denen etwas geschehen ist, das nicht hätte geschehen müssen.“ Zufall war es, als der Germanistikstudent Adolf Frisé bei den Eltern eines Kommilitonen 1930 den Wälzer eines ihm unbekannten Autors namens Musil liegen sah. Frisé leiht sich diesen „Mann ohne Eigenschaften“ aus, fängt Feuer, schreibt dem Autor, der ihm auch freundlich antwortet, wagt sich gar an eine Rezension. Anfang 1933, noch ist Hitler nicht an der Macht, darf der Jungkritiker Musil, der in Berlin über der Fortsetzung des Romans brütet, in dessen Pension am Ku’damm besuchen.

Jahre später, der Krieg ist vorbei, Musil längst tot und vergessen, überantwortet die Witwe Adolf Frisé den Nachlass ihres Mannes. Eine entsagungsreiche Lebensaufgabe, wie sich zeigt. Von 1952 bis 1957 gibt Frisé, inzwischen Kulturredakteur beim Hessischen Rundfunk, erst eine dreibändige Werkausgabe heraus, die Musils Wiederentdeckung einläutet, ab 1978 eine revidierte, dazu Briefe und Tagebücher.

Nicht auszudenken, wie es heute um das Werk dieses Autors stünde, hätte es nicht 1930 jenen Wendepunkt gegeben. Auch Frisés Leben wäre nach dem Krieg anders verlaufen. Seinen ersten Roman etwa hätte er bestimmt nicht erst im Alter von 80 Jahren vorgelegt (ein weiterer folgt sieben Jahre später), laborierte er doch schon in den Dreißigerjahren an einem, der den bezeichnenden Titel „Leben um den toten Punkt“ tragen sollte, jedoch aufgegeben wurde. Wie biografisch dagegen der Stoff von „Der Beginn der Vergangenheit“ (1990) ist, verraten die jetzt posthum veröffentlichten Erinnerungen Frisés.

Bei den Olympischen Spielen in Berlin 1936 hatte er die „Ärmste“ – im Roman nennt er sie Ruth, in den Erinnerungen Eva – kennen gelernt, eine schwer kranke, mit einem holländischen Geschäftsmann verheiratete Frau. Auch dies ein Wendepunkt: In der Ehe zu dritt überwindet Frisé seine Bindungsängste, kümmert sich um sein „Sorgenkind“, dessen Not ihm im Krieg ein Grund ist, zu überleben. 1954 stirbt Eva; die folgenden Jahre mit der zweiten Liebe seines Lebens, Maria, auch sie zunächst mit einem anderen Mann verheiratet, konnte der letztes Jahr verstorbene Frisé nur noch skizzieren.

Eine komprimierte, spröde Schreibe kennzeichnet freilich schon die Darstellung der Jugendjahre. Der unprätentiöse Autor rechnet auf geistige Mitarbeit, zwingt den Leser zu konzentrierter, komplettierender Lektüre. Eine berührende Intimität evoziert Frisés Zurückhaltung dort, wo es um erotische Erfahrungen geht: „Wir übten uns in Zärtlichkeiten. Sie wie ich kamen zur Ruhe.“ Aufgewachsen ist Frisé im zunächst noch besetzten Rheinland, in bescheidenen Verhältnissen. Schon früh scheint es zu der Erfahrung gekommen zu sein, dass sein Selbstgefühl nicht selbstverständlich ist. Ungewöhnliche reflexive Wendungen weisen darauf hin: Der Bettnässer, der die Matratze umdreht, ist „erleichtert, mir selbst entronnen zu sein“. Vom Jungen, der sich tollkühn die Außenwand entlanghangelt, heißt es, „ich provozierte mich“. Ein Identitätsproblem, das früh verstärkt wird, da sich der vermeintliche Vater eines Tages als Stiefvater entpuppt und aus dem kleinen Adolf Altengarten Adolf Frisé wird. „Ich war auf einmal nicht mehr der, der ich all die Zeit gewesen war.“ Später stellt er über den verstorbenen ersten Mann seiner Mutter Nachforschungen an; fahndet nach einer Großmutter, von der ihm ein Unbekannter ein märchenhaftes Erbe verheißt. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Der mittellose Student, der bei Friedrich Gundolf in Heidelberg promoviert, muss sich sein Existenzminimum mit Zeitungsartikeln erschreiben.

Im Berliner Zeitungsdschungel Anfang der Dreißigerjahre knüpft Frisé emsig Kontakte, rezensiert für das Zentrumsblatt Germania, besucht Gottfried Benn in seiner Praxis und Joseph Roth im legendären Café „Mampe“. Dass er beim Klinkenputzen bei den Größen des Literaturbetriebes, bei Monty Jacobs von der Voss oder bei Rudolf Kayser von der Neuen Rundschau, eine Welt kurz vor ihrem Ende erlebt, merkt der unpolitische Frisé kaum.

Der Tunnelblick als Folge des täglichen Existenzkampfes: „Nahm ich wahr, was vorging? Ich mochte mir wie so viele nicht vorstellen, wie es kommen könnte.“ Die Wochen vor Hitlers Machtantritt werden geschildert, als hätte sich die Zeit gedehnt. Als wollte der greise Autor begreifen, warum er damals das Unheil nicht vorausgesehen hatte. Wohl symptomatisch für viele nach 1933 ist der Rückzug. Als Mensch flüchtet Frisé ans Meer oder in die Berge, als Journalist in die Historie, als Intellektueller in sich selbst. „Wir waren, das war meine Formel, eine amorphe Eventualität.“ Musils Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit also. Man passt sich an, hält sich auf Distanz und sucht sich Nischen, auch in der Wehrmacht, wo Frisé Nachrichtenoffizier wird. Man muss halt überleben.

Die wenigen Zusammenstöße mit dem Regime sind Versehen, keine Provokationen. Von seiner Militärstudie in dem propagandistischen Sammelband „Unser Kampf in Holland, Belgien, Flandern“ (1941) schreibt Frisé leider nichts. Nur einmal, als er in Russland Zeuge einer Massenerschießung wird, wächst er über sich hinaus, versucht vergeblich, den Offizier umzustimmen. Eine der packendsten Szenen des Buches. Kein „Wendepunkt“ in seinem Leben; aber einer, auf den er stolz sein durfte.

Adolf Frisé: „Wir leben immer mehrere Leben“.Rowohlt, Reinbek 2004, 256 Seiten,19,90 Euro