Radikale Zerstreuung

Der öffentliche Raum als Orchestergraben: Die Gruppe Ligna und Jens Röhm laden am Sonnabend unter dem Titel „Wählt die Signale!“ zum ersten Radiokonzert für 144 Mobiltelefone ein

von ROGER BEHRENS

Die bürgerliche Öffentlichkeit basiert auf dem Recht der Versammlung. Die Rundfunkkünstler der Gruppe Ligna setzen hingegen auf die Zerstreuung als Radikalisierung des öffentlichen Raumes. Inwiefern für dieses Konzept das Radio nutzbar gemacht werden kann, hat Ligna im letzten Jahr mit dem „Radioballett“ im Hamburger Hauptbahnhof gezeigt. Und nun soll, wieder in Zusammenarbeit von Kunsthalle und Freiem Sender Kombinat (FSK), die Zerstreuung ausgedehnt werden, diesmal auch als Zerstreuung der Zeit.

Der Mensch bewegt sich heute in Raum und Zeit nach Maßgabe der Erreichbarkeit; er ist mobil, obgleich er in permanenter Verfügbarkeit, etwa durch das Mobiltelefon, unbeweglich wird, fixierbar. Gleich dem Wagnerschen Leitmotiv kann jedem mit neueren Handys sogar eine persönliche Melodie zugewiesen werden; der Weckruf der Individualität wird zum Klingelton. Und auch hier gilt das Marxsche Diktum, dass man den Verhältnissen ihre eigene Melodie vorspielen muss. Für Ligna heißt das: Zerstreuung durch Konzentration – unter dem Titel „Wählt die Signale!“ werden 144 Mobiltelefone über 144 Nummern zwölf Stunden lang erreichbar sein; aus den von Jens Röhm komponierten Handymelodien erzeugen die Anrufenden eine spontane, komplexe Musik, die über Radio und Internet in einem imaginären Konzertsaal zu hören sein wird. Eine merkwürdige Traktur, denn die Instrumente werden digital fernbedient: Etwas pathetisch gesagt, wird die ganze Stadt zu einer virtuellen Orgel, indem der öffentliche Raum seine eigene Akustik entfaltet.

Die kleine Zahlenmystik ist gewollt: die zwölf mal zwölf Telefone und die zwölf Stunden Musik verweisen auf die chromatische Zwölftonleiter; Ligna sieht sich mit dieser Aktion durchaus in der Tradition experimenteller Musik, wobei Namen wie Cage und Stockhausen ebenso in den Sinn kommen wie die musikalische Fluxuskunst. In Fortsetzung von Cages Konzept der Musikalität der Stille soll mit dem Handykonzert der Alltag hörbar gemacht werden; Stockhausen hatte bereits die phantastische Idee, Konzert und Publikum über Planeten zu verteilen – Ligna zerstreut hier den bürgerlichen Musikbetrieb über den Äther.

Das Publikum kann zudem entweder in der Kunsthalle, unterstützt von der Mobilen Bar, im Buttclub, im Fundbureau oder im Künstlerhaus Wendenstraße 45, schließlich per Telefon von jedem Ort aus an dem Konzert teilnehmen: Wer anruft (kostenlos), komponiert mit. Welche Telefone gerade belegt sind, ist im Internet unter www.fsk-hh.org über ein Raster von Leuchtpunkten zu sehen. Dort sind auch die Telefonnummern zu erfahren, die ansonsten über Flyer bekannt gegeben werden: Sheet Music, wenn man so will.

Der Popfaktor ist das technische Motiv. So wie jüngst die Grenze zwischen Interpretation und Komposition durch Plattenspieler und Sampling überschritten werden, soll jetzt die Demarkationslinie zwischen Künstler und Zuhörer zerstreut werden: Jeder ist Musiker, um es mit Beuys zu sagen. Im Übrigen ist „Wählt die Signale!“ auch eine Hommage an die Anfangszeit des Radios und der Musikübertragung. Die ersten elektrischen Orgeln waren riesige Generatoren, die die Musik per Telefon nach Hause lieferten. Eine zeitgemäße Sinfonie der Tausend, die den öffentlichen Raum zum Orchestergraben macht.

Sa, 20 Uhr, Rotunde der Kunsthalle; zuvor Instrumente-Stimmen zwischen 15.30 + 17 Uhr, Galerie der Gegenwart; weitere Mitwirkende der Musiknacht: Gregor Schneider („Hannelore Reuen“), Christina Ebeling (Mobile Bar) und Martin Kreyßig („Die Hand – Kunst und Künstler im Film“); FSK: 93,0 MHz, 101,4 im Kabel; weitere Infos: http://telenautik.hfbk-hamburg.de/handy/dum.html