Kabelsalat des Schicksals

Eine Falle für Filmkritiker, besonders die Deleuze-belesenen: „21 Gramm“ von Alejandro González Iñárritu bietet viel Stoff für metaphysische Spekulationen. Interessant wird das aber erst, wenn die Körpersäfte zirkulieren und Herzen getauscht werden

VON TOM HOLERT

„21 Gramm“ ist ein Film mancher Möglichkeiten. Zumindest für die Kritik. Was ließe sich nicht alles mit ihm anstellen, analytisch, deskriptiv? Man könnte in einer Besprechung zum Beispiel das Wort „nonlinear“ verwenden. Denn die Chronologie der Handlungen ist so durcheinander, dass sich die Erzählstränge zu einem Kabelsalat des Schicksals verschlingen. Irgendwie geht es um die Doppelbedeutung von „accident“: Zufall und Unfall, Unfall und Zufall. Und darum, dass der Zufall kein Zufall ist, sondern eine Bedingung des Menschen und seines Schicksals.

Erst allmählich gewinnt man etwas Übersicht über das Geschehen, schälen sich Zusammenhänge heraus, Zusammenhänge, die den Film und seine Betrachtung wieder regulieren. So erweist sich, bei strengerer Überlegung, die Bezeichnung „nonlinear“ als ungenau. Zum einen verbringen auch die Zuschauer dieses Films eine bestimmte Dauer im Kinosaal, die durch einen Anfang, wenn das Licht ausgeht, und ein Ende, wenn es wieder hell wird, markiert ist; zum anderen verweigert sich „21 Gramm“ der Logik des linearen Erzählens allenfalls inkonsequent; letztlich streben die assoziativen Fetzen zur narrativen Auflösung.

Aber wie wäre es mit „intensiv“? Ist die vorübergehende Deregulierung der Erzählung nicht ein Kunstgriff, der Intensitäten freilegt, sodass man ungestört von Ursache-Wirkungs-Relationen dem Spiel der Affektionen beiwohnen darf? Doch ist es um die singulären Empfindungen und Gefühle, wie man sie diesem vom Action-Painting der Handkamera strukturierten Bildergewühl vielleicht entnehmen kann, nach entsprechender Spinoza- und Deleuze-Lektüre, eher schlecht bestellt.

Immer wieder verbauen größere Erzählungen, massive Affektblöcke den mikrologischen Intensitäten den Weg: Regisseur Alejandro González Iñárritu, wie sein Drehbuchautor Guillermo Arriaga bekannt geworden durch den Vorgängerfilm „Amores Perros“ (2000), setzt auf die ganz wichtigen Dinge: Liebe, Rache, Tod. Aus dem einzelnen Zufall entwickelt sich die eiserne Kette des Schicksals und fesselt die Figuren an den irrend-zielstrebigen Lauf des Fatums. Preiswürdig ringt das Edelensemble um Sean Penn, Naomi Watts und Benicio Del Toro um melodramatische Leinwandpräsenz. Die Oberhand aber hat stets der Schnittplatz und dessen Operator Stephen Mirrione, für „Traffic“ mit einem Oscar ausgezeichnet. Sie sind die heimlichen Autoren dieses Monstrums aus Metaphysik und Montage.

Nun klingt das alles danach, als böte sich in letzter Konsequenz ein Werturteil wie „prätentiös“ an. In der Tat heischt „21 Gramm“ geradezu nach diesem Attribut, reckt sich, spreizt sich, gestikuliert in tausend grobkörnigen Intensiv-Einstellungen, mit schwarzweißer Sozialkritik, mit dräuenden Voice-overs, mit grellen Gleichnissen, mit tiefgründigen Fragen: „Wie viele Leben haben wir, wie viele Tode sterben wir?“. In kostbar-kaputten Leidenstableaus werden alle Beteiligten zu Heiligen. Frömmigkeit und Gotteszweifel legen sich als Schleier über Schock, Sucht, Schuld und Sühne. Nichts weniger als „das Schweben im unendlichen Universum der Umstände“ wollte González Iñárritu zeigen; das Filmteam sei durch die USA getourt wie eine Rock-'n'-Roll-Band auf Tour, die einen „universalen Song“ spielt. An solche Bilder und solche Statements ein abschätziges „prätentiös“ zu hängen ist die leichteste Übung.

Nein, besser wäre es, direkt zu sagen: Dieser Film ist in seiner radikalpoetischen Hochkarätigkeit einfach unerträglich. Jedenfalls dann, wenn man ihn als das betrachtet, was seine Schöpfer in ihm sehen. Und so verlangt der Film, gegen all die manipulierend geforderte Interaktivität – à la die Zuschauer setzen den ausgerasteten Film „im Kopf“ zusammen – nach einer Verschiebung der Aufmerksamkeit.

Statt „nonlinear“, „intensiv“ oder „prätentiös“ seien hiermit „physiologisch“, „hydraulisch“ oder „ökonomisch“ vorgeschlagen. Denn „21 Gramm“ – der Titel verweist auf den angeblichen Gewichtsverlust eines Menschen im Moment des Todes – arbeitet auf interessante Weise mit Motiven der Verausgabung und des Mangels von Flüssigkeiten, und wie die Zirkulation dieser Flüssigkeiten zum Moment einer Ökonomie des Schicksals wird. Die Figuren sind verbunden durch den Verkehr der Organe und der Körpersekrete, durch (künstliche) Befruchtung und die Vergiftung des Bluts (mit Drogen), durch die Verschwendung von Blut und das Fehlen des lebensrettenden Spenderherzens. Sie sind an Schläuche angeschlossen oder hängen an der Flasche, und einer trägt gar das Herz des Manns in sich, mit dessen Witwe er gemeinsam Rache übt. Seelische Bande erweisen sich als physiologische. In diesem und nur in diesem Sinne ist „21 Gramm“ auch ein materialistischer Film.