Vegetieren unter Folie

AUS EL EJIDO RAINER WANDLER

Es sieht aus, als wäre Verpackungskünstler Christo am Werk gewesen. So weit das Auge reicht, ist die Landschaft rund um die südspanische Kleinstadt El Ejido unter Folien verschwunden. Ein riesiges Plastikmeer, das auf der einen Seite nur den Strand frei lässt und sich auf der anderen langsam in die Berge frisst. Ein Gewächshaus drängt sich an das andere. 36.000 Hektar Land liegen hier unter Folie, so viel wie nirgends auf der Welt. El Ejido ist ein Eldorado, das immer mehr Immigranten anzieht. Sie hoffen, hier in den Gewächshäusern, die den Norden das ganze Jahr mit Gemüse versorgen, den Einstieg in ein besseres Leben zu finden.

Auch Abderrazak Zeani hatte diesen Traum – ganze vier Monate lang. Dann kam die Nacht im November, die der 22-Jährige aus dem marokkanischen Kenitra nicht vergessen kann: „Ich lief abends die Landstraße von El Ejido hierher, als ich ein Motorrad hinter mir hörte. Bevor ich auf die Seite springen konnte, verspürte ich einen dumpfen Aufprall am linken Unterarm.“ Der Beifahrer hatte ihn in voller Fahrt mit einem riesigen Stein erwischt. Der gebrochene Arm musste für zwei Monate in Gips. Zeani konnte weder die Täter noch das Motorrad beschreiben. Er erstattete Anzeige gegen unbekannt. „Die brauchen uns Immigranten, aber sie wollen uns dennoch nicht hier haben“, sagt Zeani und blickt mit versteinerter Miene vor sich auf den Tisch.

Dabei kann Zeani noch von Glück sagen. In den meisten Fällen zielen die Angreifer auf den Kopf. Die Landarbeitergewerkschaft SOC hat seit vorigem Sommer über 40 Fälle von Aggressionen gegen Immigranten gezählt. Immer trifft es Marokkaner. Mehrere Opfer wurden mit gebrochenem Kiefer ins Krankenhaus eingeliefert. Sie wurden aus einem fahrenden Auto heraus mit Eisenstangen ins Gesicht geschlagen. Die Polizei sah lange untätig zu. Erst nachdem die Gewerkschaft an die Öffentlichkeit ging, kam es zu drei Festnahmen.

Viele fühlen sich erinnert an den Februar vor vier Jahren, als Einwohner von El Ejido mit Knüppeln und Schrotflinten Jagd auf Marokkaner machten, weil ein psychisch kranker Immigrant ein Mädchen aus dem Dorf ermordet hatte.

„Ich überlege mir immer wieder, ob ich weggehen soll“, sagt Zeani, „aber ich habe keine Papiere.“ Wo soll er schon hin? Hier hat er wenigstens Freunde, die ihn in ihrem „Cortijo“, einem kleinen Häuschen, mitten in den Feldern, aufgenommen haben. Alles ist eng, muffig und feucht, aber immerhin hat er ein Dach über dem Kopf. Mit viel Mühe haben die fünf Marokkaner die Baracke eingerichtet – eine Küche mit Gasherd und Kühlschrank, im Wohnzimmer steht sogar ein Sofa vom Sperrmüll, und ein Gemälde mit Hirschen verschönert die Wand.

Seit der Arm wieder verheilt ist, geht Zeani fast jeden Morgen noch im Dunkeln auf der gleichen Landstraße nach El Ejido, auf der er überfallen wurde. Bei jedem Motorengeräusch dreht er sich ängstlich um. Sein Ziel ist ein Rondell am Ortseingang – der Arbeitsstrich. Seit die Kontrollen verstärkt wurden, gibt es ohne Papiere keine regelmäßige Arbeit mehr. Zeani muss fast täglich neue finden. Ab halb sieben sammeln sich bis zu 500 Immigranten um das Rondell, getrennt nach Nationalitäten. Marokkaner, Osteuropäer, Schwarzafrikaner. Der Markt für Gelegenheitsarbeiten hat alles zu bieten. Hin und wieder hält ein Transporter, und zwei, drei Arbeiter verschwinden auf dem Rücksitz oder der Ladefläche. Wer um acht noch nicht weg ist, trottet bedrückt nach Hause, um anderntags erneut sein Glück zu versuchen. Am längsten stehen immer die Marokkaner.

Mit dem Boot ins Plastikmeer

„Die Landwirte stellen uns immer seltener ein. Sie bevorzugen Osteuropäer“, sagt Abderrahman Moussaio, einer der wenigen „Legalen“. Auch er kam mit einem Traum aus Marokko ins Plastikmeer. Mit einem kleinen Fischerboot floh der 33-Jährige vor neun Jahren über die Meerenge von Gibraltar vor dem Elend, um Geld für einen kleinen Laden zu verdienen, der Frau und Kinder ernährt, ohne dass er ständig von ihnen getrennt sein müsste. „Daraus ist bis heute nichts geworden“, sagt er leise.

Moussaios Behausung zeugt vom täglichen Scheitern. Er lebt mit seiner Cousine und einem Freund in einer kleinen gemauerten Baracke, die einst als Werkzeugschuppen diente. Feuchte Wände, der Boden ist staubig, Möbel und Matratzen sind vom Müll. Die anderen, die wie Zeani auf den wenigen Freiflächen im Plastikmeer gestrandet sind, haben es schlechter getroffen. Der Gestank nach Abfall, der über allem liegt, ist von schwefligem Geruch durchsetzt, dem man in dieser Region häufig begegnet. Er kommt aus den Gewächshäusern, in denen ohne Chemie nichts gedeiht.

Nach dem Pogrom vor vier Jahren waren die Landarbeiter in Streik getreten, man versprach ihnen bessere Wohnungen und dass sie endlich Tariflohn bekämen. Versprechungen – geändert hat sich nichts. „Wir verdienen viel zu wenig, um uns eine Wohnung nehmen zu können. Und selbst wenn wir das Geld hätten, würden sie uns in den Dörfern nicht akzeptieren.“ Da ist sich Moussaio sicher. In El Ejido stehen 3.500 Wohnungen leer. Aber an Marokkaner vermietet keiner.

Die Landwirte zahlen den Tagelöhnern zwischen 20 und 27 Euro am Tag – schwarz, versteht sich. Der Tariflohn liegt bei 36 Euro plus Sozialversicherungen. Die Landwirte nutzen aus, dass immer mehr Menschen hier Arbeit suchen. El Ejido hat 40.000 Einwohner. In den Gewächshäusern der Region werden 100.000 Arbeiter gebraucht. Das hat sich herumgesprochen. Marokkaner kommen über das Meer. Aus Lateinamerika reisen Arbeiter mit Touristenvisum ein und bleiben. Busse bringen mehrmals die Woche Rumänen und Bulgaren.

Die Arbeit ist hart: Im Sommer steigen die Temperaturen in den Folienzelten bis auf 50 Grad. Und Arbeitsschutz ist ein Fremdwort. „Wir werden ohne Schutzkleidung und Atemmasken zum Spritzen abgeordnete“, erzählt Moussaio. Im Hospital Poniente, dem größten der Region, gibt es eigens eine Abteilung für Pestizidvergiftungen. Hinter vorgehaltener Hand berichten die Krankenschwestern von Aborten und Schwindel, von Unfruchtbarkeit und kollabierenden Nervensystemen.

„Lieber aufrecht sterben als gebückt leben“, hat Moussaio an die Wand der Baracke gemalt. Parolen dieser Art haben er und seine Kollegen bitter nötig. Immer wieder kommt die Polizei auf der Suche nach „Sin Papeles“, den Papierlosen. Immer wieder schicken sie Bagger, um die illegalen Hütten einzureißen.

„Die Marokkaner sind aufmüpfig und schlechte Menschen“, schimpft Juan Antonio. Der Landwirt, der seinen Nachnamen lieber für sich behält, bevorzugt wie die meisten seiner Kollegen Osteuropäer oder Schwarzafrikaner. Die einen seien „intelligent“, die anderen „gehorsam“. Juan Antonio hat seine 15 Hektar vom Vater übernommen. „Der war selber Immigrant“, erzählt er. Der heute 74-jährige Vater kam Ende der 60er-Jahre aus der Nachbarregion nach El Ejido. Zuschüsse des Landwirtschaftsministeriums machten aus dem Landarbeiter einen Kleinbauern und aus dem trockenen Brachland ein blühendes Paradies. Kurz zuvor waren riesige unterirdische Wasserreservoirs entdeckt worden. Das Plastikmeer begann zu wachsen.

Gurken vertikal an Drähten

Wer Juan Antonios Gewächshäuser betritt, dem schlägt wieder dieser schweflige Geruch entgegen. Weiße Punkte auf den Blättern verraten: Auch hier geht nichts ohne Chemie. Die Pflanzen, egal ob Gurken, Zucchini oder Tomaten, wachsen vertikal an Drähten. Zweimal im Jahr wird geerntet. Im Winter Gemüse, Tomaten und Paprika, im Sommer Gurken und Honigmelonen.

Von niedrigen Löhnen und schlechten Arbeitsbedingungen will der Landwirt nichts hören. Er sieht sich selbst als Opfer. Ausführlich rechnet er die Unkosten vor, die er kaum decken kann. „Die Abnehmer drücken uns immer mehr im Preis“, meint er. Für ein Kilo Auberginen bezahlen sie 15 bis 20 Cent, für ein Kilo Tomaten 30 Cent und für ein Kilo grüne Bohnen 1 Euro. Die Supermarktpreise sind bis zu zehnmal so hoch. Das Geld bleibt bei den Weiter- und Endverkäufern. Und dann macht ihnen neuerdings auch die Konkurrenz aus Nordafrika zu schaffen. Vor allem in Marokko legt man jetzt viel Land unter Folie. „Die haben noch niedrigere Löhne und weniger Kontrolle und können weit unter unseren Preisen anbieten“, sagt Juan Antonio. Um die Kosten niedrig zu halten, entlässt er seine Arbeiter, wenn die frisch gesäten Pflanzen wachsen.

Früher saßen die Arbeiter dann öfter in Mustafas Bar, wie sonst nur nach Feierabend. Aber das ist vorbei, Mustafa hat keine Bar mehr, und auch das hängt mit dem Februar 2000 zusammen und der marokkanerfeindlichen Stimmung. Mustafa hat nur ein Wort dafür: „Apartheid!“ Der 38-Jährige, der seinen Nachnamen auch nicht nennen mag, kam vor 15 Jahren „auf der Suche nach mehr Freiheit“ aus dem nordmarokkanischen Tetuan. Er ist mit einer Spanierin verheiratete und gehört zu den wenigen Marokkanern, die direkt in El Ejido leben.

Natürlich kann er sich noch gut erinnern an damals, auch er wurde Opfer des Hassausbruchs: „Eine aufgebrachte Meute zerstörte meine Kneipe“, erzählt er. Zwar zahlte ihm die Gemeinde eine Entschädigung, aber wenig später wurde ihm die Lizenz entzogen. Es wurden neue Wohnblocks am Platz gebaut. Die Kneipe störe die Nachtruhe, lautete die Begründung. Mustafa ging für drei Jahre nach Madrid. Jetzt ist er zurück in El Ejido und will einen kleinen Basar eröffnen. Aber verbittert ist er heute noch. „Keiner von denen, die damals Jagd auf Marokkaner machten, wurden je vor Gericht gestellt.“