jugend liest
: Aufrechte Liebe unter Männern

Wie die meisten guten Bücher ist auch dieses für verschiedene Lesarten offen. Man könnte also mit Oscar Wilde und seinem Geliebten Bosie anfangen, das wäre die erwachsene, schon vorgebildete Lesart. Wir befinden uns in London im Jahr 1884 und tauchen ein in die freizügige Welt der Boheme. Exzentrische Künstler und Intellektuelle, unter ihnen viele Homosexuelle, inszenieren sich selbst und ihr rauschhaftes Leben. Bosie, der als Wildes Geliebter Geschichte schrieb und nach dessen Tod bürgerlich heiratete und Vater wurde, ist dabei nur eine schillernde Gestalt unter vielen. Wer will, kann Wildes „Bildnis des Dorian Gray“ bemühen. Nicht zufällig trägt die Hauptfigur einen ähnlich klingenden Namen: Adrian. Aber Jugendliche, die Wilde nicht kennen, können deshalb mit diesem Buch nicht weniger anfangen. Vielleicht sind sie sogar im Vorteil, weil sie nicht ständig nach Anspielungen und Parallelen stöbern und sich dem Geschehen dadurch direkter aussetzten.

Sowieso ist dieser Adrian eine ganz eigene Figur. Kein radikaler Narziss, sondern ein junger Mann, der nach Erfahrungen lechzt, die ihm das Leben im armen Osten Londons nicht bieten kann. Mit Adrian betreten wir das London eines Charles Dickens: Da schuften Eltern von früh bis spät und schaffen doch nicht das Nötigste für ihre Kinder heran; da werden Männer arbeitslos und verfallen dem Alkohol und junge Frauen erkranken an Tbc. In der winzigen Dachkammer, die Adrian Mayfield bezieht, tanzen nachts die Mäuse über den Tisch und die Kakerlaken auf der Bettdecke. Die engen Hausflure stinken, auf den Straßen liegt der Dreck, und 12-Jährige gehen natürlich nicht zur Schule, sondern arbeiten für Hungerlöhne unter schlagenden Chefs. Das London des Oscar Wilde und das London eines Charles Dickens – diese Gegensätze bringt Floortje Zwigtman zusammen.

Adrian also, der sich allein durchschlagen muss, weil sein Vater die eigene Kneipe versoffen hat. Als Hilfskraft in einer Schneiderei in Soho lernt er den fettleibigen und geschwätzigen Maler Trops kennen. Wenig später sitzt er für fünf Schilling Modell. Für ein Pfund und mehr geht er mit ihm ins Bett. Das ist viel Geld für einen aus dem Londoner Osten. Dabei ist es nicht so, dass es Adrian unangenehm wäre. Obwohl körperlich eher unattraktiv, fühlt Adrian sich von Trops angezogen, sehnt sich nach seinen Berührungen. Homosexualität stand damals unter Strafe, Homophobie war die Regel. Doch Adrian ist eine Art natürlicher Freigeist und zeigt sich erstaunlich souverän, als er feststellt, dass er Männer liebt. Mindestens genauso nämlich liebt er die Intellektualität der Künstler und ihre innere Unabhängigkeit, mit der sie sich über Konventionen hinwegsetzen.

Doch nach dem Aufstieg kommt der Fall. Trops hat schnell einen neuen Lover. Dann kommt der Sommer und die Boheme zieht es in die Sommerfrische. Der mittellose Adrian bleibt in der Stadt. Die Mutter besorgt ihm einen Bürojob. Adrian schlägt das Angebot aus und prostituiert sich. Eine harte Geschichte, ungewöhnlich offen erzählt, auch in Bezug auf das Sexuelle. Warum nur tut Adrian sich das an? Was Adrian bei seinen Freiern genau sucht, bleibt nebulös. Was er am Ende des Romans findet, ist eindeutig: die aufrechte Liebe zu einem Mann, der ihn genauso aufrichtig liebt, obwohl er sich zu seiner frisch entdeckten Homosexualität noch nicht bekennen mag. Und so kommt nach dem Fall wieder ein Aufstieg. Kitschig? Ich finde, so ein Happy End kann sich dieser vielschichtige Roman gut leisten. ANGELIKA OHLAND

Floortje Zwigtman: „Ich, Adrian Mayfield“. Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf. Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2008, 508 Seiten, 16,90 Euro