Mit Handwerk zur Demut

Das Schülerlabor Geisteswissenschaften macht mit der Praxis moderner geisteswissenschaftlicher Forschung vertraut. Die Gründerin Yvonne Pauly beschreibt Ziel und Arbeit der Einrichtung

Yvonne Pauly (42), promovierte Philologin und Initiatorin des Schülerlabors Geisteswissenschaften.

INTERVIEW SVEN KULKA

Seit 2006 bietet die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften das Schülerlabor Geisteswissenschaften an. Dieses ist das einzige Schülerlabor in den Sprach- und Kulturwissenschaften. Das Schülerlabor will sie mit der Praxis moderner geisteswissenschaftlicher Forschung vertraut machen. In halbtägigen Workshops lernen die Jugendlichen ausgewählte Vorhaben aus dem Spektrum der Akademie kennen und können spezifisch geisteswissenschaftliche Arbeitsformen erproben.

taz: Frau Pauly, was war Ihre Motivation, das Schülerlabor Geisteswissenschaften aufzubauen?

Yvonne Pauly: Wir wollen Jugendlichen vor dem Übergang zur Hochschule Gelegenheit bieten, die Welt der modernen Geisteswissenschaften genauer kennenzulernen, als dies im regulären Schulunterricht möglich ist, durch eigenes Experimentieren mit geisteswissenschaftlichen Methoden. Unsere Akademie verfügt über 30 Vorhaben geisteswissenschaftlicher Grundlagenforschung und damit über eine Bandbreite an Themen und Perspektiven, an Erfahrung und Kompetenz. Das Schülerlabor kann zudem Schülern dabei helfen, zu entscheiden, ob ein geisteswissenschaftliches Studium für ihn oder sie wirklich das richtige ist.

Hat die Entscheidung, das Schülerlabor aufzubauen, auch etwas mit Ihren eigenen Erfahrungen zu tun?

Ich selbst hatte Latein, Deutsch und Geschichte als Leistungskurse und habe vor allem die sprachlichen Fächer immer geliebt. Als ich dann das Studium der Klassischen und Deutschen Philosophie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften aufnahm, war das trotz meiner Leidenschaft ein unsanftes Erwachen. Plötzlich interessierte keinen mehr, was ich zu einem Thema zu bemerken hatte, vielmehr bestand man in den Seminaren erst einmal auf sorgfältiger Einübung des methodischen Handwerkszeugs. Ich habe diese „Pedanterie“ damals oft genug verwünscht. Im Nachhinein erscheint es mir wichtig, den subjektiv-narzisstischen Zugang zur Literatur, diese schülerhafte Hybris, die sich sozusagen auf Augenhöhe mit dem Weltgeist glaubt, zu überwinden und dem Gegenstand seines Interesses mit einer gewissen Demut zu begegnen. Diese Haltung versuche ich auch im Schülerlabor zu vermitteln.

Wie sehen Ihre Workshops in der alltäglichen Praxis aus? Wer hilft Ihnen dabei, Wissen zu vermitteln?

Pro Halbjahr entwickeln wir ein bis zwei neue Schülerlaborstaffeln, die jeweils an Vorhaben unseres Hauses anknüpfen. Die Lehrer melden sich zu den von uns angebotenen Terminen an und kommen dann mit ihren Kursen für einen Vormittag in die Akademie am Gendarmenmarkt. Jeder Workshop dauert rund fünf Stunden und umfasst einerseits Phasen der Präsentation sowie andererseits der selbstständigen Arbeit, die jedes Mal anders aussieht.

Beschreiben Sie eines ihrer Schülerlabore.

In einem Schülerlabor zur antiken Medizin haben die Schüler beispielsweise einen Auszug aus einem lateinischen Text des 2. Jahrhunderts nach Christus entziffert, der ihnen in einer mittelalterlichen Handschrift vorgelegt wurde, und diesen mit dem Erstdruck aus dem 15. Jahrhundert verglichen. Dabei waren an einigen Stellen signifikante Abweichungen zu entdecken. Die Entscheidung, welcher Überlieferung man den Vorzug gab, setzte Vertrautheit mit dem sogenannten Hippokratischen Eid voraus, den die Schüler zuvor kennengelernt hatten: In der Philologie nennt man diesen Prozess Textkritik. In einem anderen Schülerlabor, das ich in Kooperation mit dem „Deutschen Wörterbuch“ durchgeführt habe, bekamen die Teilnehmer ein Kästchen mit knapp vierzig Archivbelegen zu einem Stichwort vom 8. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Wie ein richtiger Lexikograf mussten sie das Belegmaterial prüfen, Bedeutungsgruppen unterscheiden und schließlich einen kleinen Wörterbuchartikel entwerfen – sie erhielten also eine sehr konzentrierte Einführung in die historische Semantik.

Warum, glauben Sie, gibt es nur ein Schülerlabor Geisteswissenschaften, wobei doch ein Viertel der Studierenden in den Geisteswissenschaften eingeschrieben ist?

Hinter der Entwicklung der reichhaltigen natur- und technikwissenschaftlichen Schülerlaborszene standen nicht nur, aber auch ökonomische Interessen. Der sich Mitte der Neunziger Jahre abzeichnende Nachwuchsmangel in Fächern wie Chemie, Physik oder den Ingenieurwissenschaften schien die globale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu gefährden; entsprechend hoch war die Bereitschaft etwa industrienaher Stiftungen, sich in der Förderung von Schülerlaboren und damit der Rekrutierung potenzieller Mitarbeiter zu engagieren. Eine solche potente Unterstützung fehlt in den Geisteswissenschaften, die ebenfalls ein Nachwuchsproblem haben, allerdings weniger ein quantitatives denn ein qualitatives. Denn von den rund 70.000 Studierenden, die sich jährlich für ein Fach der Geisteswissenschaften einschreiben, brechen 45 Prozent dieses Studium wieder ab.

Weitere Informationen: www.bbaw.de