Unversöhnlich bleiben

Ruth Klüger hat mit „unterwegs verloren“ den zweiten Teil ihrer Erinnerungen geschrieben. „weiter leben“ dokumentierte ihre Kindheit in der Schoah. Nun erzählt sie von dem Leben danach

Auschwitz sei keine Anstalt für „sittliche Läuterung“ gewesen, schrieb Ruth Klüger einmal auf das in Deutschland populäre Argument, dass doch die Juden aus ihrer Geschichte gelernt haben und deshalb mit den Palästinensern anders umgehen müssten. Diese Stelle findet sich in ihren Kindheitserinnerungen „weiterleben“ (1992), die zum Bestseller wurden.

Ruth Klüger war ein grandioses Buch gelungen, in dem sie die Odyssee mit ihrer Mutter durch verschiedene Vernichtungslager auf eine Weise beschrieb, die sich literarisch aus der Masse der Erinnerungsbücher abhob.

Ihre Haltung war unversöhnlich und immer wieder stand im Fokus ihrer Kritik die von den Deutschen erfundene Disziplin der „Vergangenheitsbewältigung“. Ganz im Sinne Hannah Arendts gibt es für Ruth Klüger keine Kollektivschuld, aber mehr als genügend Antisemiten, mit denen sie sich herumschlagen musste.

Und von diesen Leuten handelt der zweite Teil ihrer Memoiren „unterwegs verloren“, der von der Nachkriegszeit erzählt, als Ruth Klüger nach Amerika auswanderte und dort eine Karriere als Literaturwissenschaftlerin machte.

„Es gibt eine Tendenz in Deutschland, Juden zu sammeln, sie in eine Schublade, wie zum Aufheben, zu stecken“, schreibt Ruth Klüger, und in dieser nicht sehr schmeichelhaften Einschätzung, die sie aus den Erfahrungen ihres Lebens gezogen hat, wird deutlich, dass die inzwischen 77-Jährige immer noch zu den Unbeugsamen gehört, die nicht das Bedürfnis verspüren, sich auf evangelischen Kirchentagen mit ehemaligen Tätern zu versöhnen.

Als Verbitterung wird ihr das inzwischen ausgelegt, aber wenn man ihr Buch gelesen hat, weiß man auch, dass sie jeden Grund dazu gehabt hätte, wenn sie es denn gewesen wäre.

Sie beschreibt die Ungeheuerlichkeiten, die ihr in ihrem Leben in Freiheit zustießen zu einer Zeit, als der Unibetrieb noch reine Männersache war und Frauen für das Kaffeekochen zuständig waren, von den riesigen Anstrengungen, die es kostete, den Ehemann zu verlassen, zwei Kinder durchzubringen und trotzdem eine Unikarriere zu machen, von den Vorurteilen, die ihr als Frau und als Jüdin entgegenschwappten, weil es selbst in intellektuellen Kreisen die Annahme gab, dass die Juden nicht ganz unschuldig an ihrer Vernichtung gewesen sein konnten.

Ruth Klüger hat das alles nicht vergessen. Was eigentlich gesellschaftlicher Konsens sein sollte, nämlich Antisemitismus zu ächten, ist für sie selbstverständlich, obwohl ihr das am meisten abverlangte, wie ihr „Offener Brief“ an ihren Freund Martin Walser deutlich machte, dem sie die Grenze „bis hierher und nicht weiter“ aufzeigte, die dieser in „Der Tod eines Kritikers“ überschritten hatte, was seiner Karriere als erfolgreicher Schriftsteller in Deutschland keinen Abbruch tat. Ruth Klüger tat sich schwer mit ihrer Entscheidung, weil sie wusste, dass sie einen Freund verlieren würde, aber ihre Achtung vor sich selbst verlangte ihr das ab, das zeigt ihr Buch sehr deutlich.

Es zeigt eine Haltung an, die selten geworden ist, auch antiquiert erscheint, nämlich sein Leben nach bestimmten Prinzipien auszurichten, intellektuell wach zu sein für gesellschaftliche Stimmungen, radikal zu sein.

KLAUS BITTERMANN

Ruth Klüger: „unterwegs verloren. Erinnerungen“. Zsolnay Verlag, Wien 2008, 240 Seiten, 19,90 Euro