Schön, so wie es ist

Die Kritiker wittern Verführung, die Initiatoren betonen die Notwendigkeit eines intakten Wohnumfelds: In der Berliner Wohngruppe Magnus sollen schwule und lesbische Jugendliche aus Problemfamilien frei von Nachstellungen ein neues Zuhause finden

von FRIEDERIKE WYRWICH

Bei der Eröffnung hatte die Psychologin Andrea Richtzenhain gesagt: „Heute braucht man keinen Mut mehr, sich dieses Themas anzunehmen. Heute braucht man nur den Mut zur Finanzierung.“ Am Anfang hat es bunt bedruckte Plakate und ein kleines Heft gegeben, um Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren gezielt anzusprechen. Die Adresse wurde im Internet veröffentlicht. Doch damit war schnell wieder Schluss.

Ein halbes Jahr lang hat die Wohngruppe Magnus nur gefunden, wer irgendwie von ihr gehört hat. Wer die Adresse persönlich beim Träger, dem Evangelischen Johannesstift, erfragt hat, wer eine Schöneberger Hauptverkehrsstraße entlanggegangen ist, bis er die richtige Hausnummer gefunden hat. Im zweiten Hinterhof schließlich steht er, ein frisch sanierter, rotbrauner dreistöckiger Altbau, das Haus von Magnus. Drinnen sitzen sie gerade beim Abendessen: eine Frau und ein Mann Ende zwanzig, drei Jungs zwischen fünfzehn und sechzehn. Es gibt Kartoffelauflauf und Apfelsaft.

„Inzwischen habe ich gelernt“, sagt Andrea Richtzenhain, „dass man doch noch Mut braucht für so ein Projekt. Die Menschen verlangen immer wieder, dass man sich dafür rechtfertigt.“ Bei der Eröffnung am 16. September 2002 war die Wohngruppe für sechs schwule oder lesbische Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren gedacht. Genauer gesagt, für verhaltensauffällige Kinder, die ohnehin schon von der Jugendhilfe betreut werden. Deren Elternhäuser kaputt sind oder die ein ganzes Jahr nicht mehr zur Schule gegangen sind. Für Kinder und Jugendliche also, deren homosexuelle Orientierung zu einem ohnehin schon großen Problemberg hinzukommt. „Wir wollen den Jugendlichen einen geschützten Raum geben, wo sie zu sich selbst finden können – egal, ob sie homo-, bi- oder transsexuell oder sonst was sind“, sagt Mario Runiewicz, 29, einer der beiden Erzieher.

In der Berlin-brandenburgischen Sonntagszeitung Die Kirche stand nach der Eröffnung ein längerer Artikel mit der Überschrift „Eine Wohngruppe bietet Schutz“. Es dauerte sieben Tage, bis sich Protest regte. Am 23. September zitierte die konservative evangelische Nachrichtenagentur Idea eine „Expertin in Sachen Homosexualität“ vom Deutschen Institut für Jugend und Gesellschaft, die behauptete, zur Unterstützung im Coming-out gehöre die „Einführung in sexuelle Praktiken“, und den Erziehern rundheraus sexuellen Missbrauch unterstellte.

„Ich habe das ehrlich gesagt nicht mehr vermutet“, sagt Andrea Richtzenhain. Die Psychologin betreut die Wohngruppe von ihrer Schöneberger Praxis aus. Seit 25 Jahren arbeitet sie in der Jugendhilfe. „Homosexualität wird doch nicht sofort sexuell ausgelebt“, sagt sie. „Eine Zwölfjährige schläft ja auch nicht sofort mit einem Mann, weil sie weiß, dass sie heterosexuell ist.“

Auch der Bischof der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, Wolfgang Huber, distanzierte sich vom Wohnprojekt. Er begrüße es zwar, wenn Kindern und Jugendlichen in schwierigen familiären Situationen Hilfe zuteil werde, ließ er seinen Sprecher dem Evangelischen Pressedienst (epd) mitteilen, jede Form der Begleitung sei jedoch abzulehnen, in der schon Zwölfjährige auf eine gleichgeschlechtliche Lebensweise festgelegt werden.

Festgelegt werden … Mario Runiewicz schüttelt den Kopf. „Hierher kommt niemand, der sich nicht schon selbst mit der Frage „Bin ich schwul oder lesbisch?“ auseinander gesetzt hat. Welcher Dreizehnjährige geht schon zum Jugendamt und sagt: Hallo, ich bin schwul, gibt’s ’ne Wohngruppe für mich?“ Wer zu Magnus komme, habe sein inneres Coming-out meist schon allein hinter sich gebracht. „Und wenn jemand irgendwann feststellt, dass er doch nicht schwul ist, werden wir ihm doch nicht sagen: Da ist die Tür!“

In der Erziehungswohngruppe geht es zu wie in anderen auch. Mario Runiewicz und seine Kollegin Frauke Arndt, 26, wohnen mit im Haus. Die Jugendlichen werden rund um die Uhr betreut, sollen zur Schule gehen oder eine Ausbildung machen, und sie lernen, sich selbst zu versorgen; geputzt und gekocht wird gemeinsam. „Der einzige Unterschied ist, dass mir ein Junge am Abend erzählt, dass er Probleme mit seinem Freund hat und nicht mit seiner Freundin“, sagt Runiewicz. Oder vielleicht der, dass die Jugendlichen in ihren Erziehern Vorbilder für normales schwules oder lesbisches Leben finden: wenn diese beispielsweise beim Sonntagsfrühstück ihre Partner dabeihaben.

Colin* kommt mit einer großen Plastiktüte in die Küche. Großeinkauf mit der Mutter. „Weil ich doch jetzt ein armes Heimkind bin!“, sagt der Sechzehnjährige und lacht. Colin lebt seit zwei Monaten bei Magnus. Ohne Zustimmung der Sorgeberechtigten, ohne Zuweisung vom Jugendamt kommt niemand hierher.

Die Zimmer der Jungen befinden sich im zweiten Stock. Das ganze Haus wirkt farbenfroh: Treppen und Geländer sind orange gestrichen, die dunkelroten Zimmertüren setzen sich von den weißen Wänden ab. In seinem Zimmer hat Colin Schwarzweißpostkarten mit Männerakten aufgehängt. Zwei Wellensittiche krakeelen in ihrem Käfig. Auf dem Schreibtisch stehen neben einer kleinen Buddhastatue seine Kinderfotos und die von nahen Verwandten.

Mit zwölf, dreizehn, erinnert sich Colin, sei ihm bewusst geworden, dass er sich mehr zu Jungen hingezogen fühlte – in dem Alter, als die anderen Jungs anfingen, den Mädchen hinterherzusehen. „Erst wollte ich das nicht wahrhaben.“ Schon in der Grundschule fingen die Hänseleien seiner Mitschüler an. „Irgendwie haben die das gemerkt.“

Einem Lehrer wollte sich Colin nie anvertrauen. „Schwulsein und Lesbischsein, das gab’s gar nicht in der Schule, auch nicht an der Hauptschule in Sexualkunde. Das war nur ein Schimpfwort.“ Irgendwann fand er es leichter, gar nicht mehr zur Schule zu gehen, als sich jeden Tag seinen Mitschülern auszusetzen. Colin schwänzte anderthalb Jahre. „Damals“, sagt er, „hab ich an meine Zukunft oder so was gar nicht gedacht.“

Seit er bei Magnus wohnt, geht Colin wieder in ein Hauptschulprojekt. Dazu gehört, dass er drei Tage in der Woche in einem Kindergarten aushilft. Er bastelt dort mit den Kleinen und freut sich, dass sie ihn mögen. „Die haben mir hier gesagt, dass das meine letzte Chance ist“, sagt er. Mit Frauke und Mario verstehe er sich „total super“, wie Familienleben sei das. Nur mit Matthias gebe es manchmal Streit. „Weil wir beide so Zicken sind.“ Was macht ihn so sicher, dass er schwul ist? Colin denkt nach: „Weil ich mein Leben schön finde, so wie es jetzt ist.“

Wie andere Wissenschaftler auch gehe ich davon aus, dass die homosexuelle wie die heterosexuelle Prägung vorpubertär stattfindet“, sagt Andrea Richtzenhain. Viele Schwule und Lesben bemerkten schon in der Kindheit, dass sie anders seien und ausschließlich für Personen des eigenen Geschlechts schwärmen. Diese Prägung werde aber erst mit den Hormonschüben der Pubertät deutlich, die bei Mädchen mit etwa elf und bei Jungen ab zwölf Jahren einsetzen. Auch bei Magnus hat es schon Anfragen für Zwölfjährige gegeben. „Uns wurde immer wieder unterstellt, dass wir die Kinder an Homosexualität binden würden“, so Richtzenhain. „Dabei ist Homo- wie Heterosexualität gar nicht beeinflussbar.“

Bischof Huber, der dem Kuratorium des Evangelischen Johannesstifts angehört, hat nach seiner öffentlichen Kritik auf eine Änderung des Konzepts der Wohngruppe gedrängt. Das Mindestalter von zwölf Jahren wurde nicht mehr genannt, Magnus zu einer Wohngruppe „für junge Menschen“ erklärt. Die Informationskampagne mit Plakaten und Heften wurde ausgesetzt, um weitere Kritik zu vermeiden. Lediglich die Jugendämter erhielten das Konzept der Wohngruppe zugeschickt.

„In den normalen Wohngruppen ist Sexualität in der Regel kein Thema“, sagt Frauke Arndt. „Da geht es nur darum, ab welchem Alter die Jugendlichen Sex haben dürfen. Und vielleicht noch, dass sie nicht schwanger werden.“ In einer Gruppe, in der sie vor Jahren Praktikantin war, gab es einen schwulen Jungen, der immer wieder von den anderen mit Worten drangsaliert wurde. „Die Erzieher haben nicht wirklich eingegriffen. Den hat auch keiner zu einer Beratungsstelle geschickt oder zu einer Coming-out-Gruppe.“ Und was hat sie getan? „Ich war noch nicht so weit. Ich habe mich nicht geoutet, weil ich mich dort selbst nicht sicher fühlte.“

Der fünfzehnjährige Matthias* ist einige Wochen nach Colin in die Wohngruppe gekommen. In seinem Zimmer hängen so viele Poster von Boygroups, dass kaum noch Tapete zu sehen ist. In einem offenen Schrankfach hat er seine Kosmetika aufgestellt: Haarspray, blauen Nagellack, Florena-Creme. Aufgewachsen ist Matthias in einem Dorf bei Rostock. Die letzten Monate hat er in einem Heim gelebt, weil er immer wieder von zu Hause fortgelaufen und nach Berlin zu einem älteren Mann gefahren ist. In seinen Schulen hat er es in letzter Zeit nie lange ausgehalten, manchmal ist er gar nicht mehr hingegangen.

„Ich hab das Wort ‚schwul‘ mit zwölf zum ersten Mal gehört. Aber ich hab schon in der ersten Klasse gemerkt, dass ich anders bin, dass ich auf Jungs stehe. Weil da mal ein Mädchen mit mir gehen wollte …“ Matthias’ halblange Haare sind heute nach hinten gekämmt. Sein Traum ist es, einmal singend auf einer Bühne zu stehen, in einem langen, schwarzen Kleid und mit hochhackigen Schuhen.

Frauke Arndt, die den Traum kennt, rollt ein wenig mit den Augen. Matthias würde am liebsten jeden Tag ein Kleid anziehen und so auch zur Schule gehen. Nur dass ihm der Spott seiner Mitschüler dann unerträglich würde. „In der einen Schule habe ich den Mädchen am ersten Tag gesagt: Ihr könnt mich auch Franziska nennen. Von da an haben sie mich immer begrüßt: Hallo, Fräänzii, bist du auch da? Da bin ich natürlich nicht lange geblieben.“ Ältere Heimjungen klopften nachts ans Fenster und schrien: „Fräänzii, du schwule Sau, wenn wir dich draußen sehen, hauen wir dich zusammen!“

In der Wohngruppe kann Matthias nach Lust und Laune ein Kleid anziehen und sich schminken – auch wenn alle abends gemeinsam weggehen. Auch wenn Colin nur widerwillig neben ihm geht, „weil Matthias sich schlecht schminkt und es nicht merkt“. In das Schulprojekt, das Matthias besucht, seit er in Berlin ist, geht er aber ungeschminkt und als Junge. Die Wohngruppe ist seine Peergroup geworden. „Von den anderen Jungs hier“, sagt Frauke Arndt, „lässt er sich vielleicht eher was sagen als von seinen Klassenkameraden.“ Eine Peergroup ist für homosexuelle Jugendliche, die oftmals das Gefühl haben, mit ihren Empfindungen allein zu sein, eine Seltenheit.

Jugendliche, auch heterosexuelle, setzen sich heute viel mehr mit Homosexualität auseinander, weil sie häufiger in den Medien vorkommt“, erklärt Joachim Braun von Pro Familia. Gerade bei Jungen, die um ihre Männlichkeit fürchten, verursache das Thema große Ängste. „Aber die Auseinandersetzung führt jeder und jede Jugendliche mit sich selbst. Sobald man anfängt, darüber zu reden, könnten die Mitschüler ja denken, man sei selber lesbisch oder schwul.“

Umso wichtiger sind Informationen, an die Jugendliche gelangen können, ohne sich gleich offenbaren zu müssen. Über die Wohngruppe Magnus soll in den nächsten Wochen wieder Informationsmaterial verteilt werden – in überarbeiteter Form. Auch wenn die neuen Plakate und Broschüren Jugendliche ausdrücklich erst ab vierzehn Jahren ansprechen: Auf Anfrage darf die Gruppe auch jüngere Kinder aufnehmen.

* Namen von der Redaktion geändert

FRIEDERIKE WYRWICH, 31, lebt als freie Journalistin in Berlin. Infos zur Wohngruppe unter www.johannesstift-berlin.de , Fon (030) 780 061 76