Hilfe, ich muss wohnen!

Die Weißenhofsiedlung in Stuttgart und der Dammerstock in Karlsruhe sollten zum befreiten Wohnen erziehen. Doch nicht jeder Bewohner ist auch ein gelehriger Schüler

von GESINE KULCKE

Schwere dunkelrote Vorhänge aus Wolle sperren die Sonne aus. Braune Kommoden kleben an der weißen Wand. Michael Krause, der Zollbeamte, hat einen Teppich mit blauen und weißen Sternchen zu den Vorhängen ausgesucht. Ein fünftüriger Kleiderschrank ragt klobig und schwer bis unter die Decke. Alles aus dem Möbelhaus, auch das Bett mit dem schamlos geschwungenen Stahlrohrschmuck. In der Mitte ein Esstisch, dunkel wie die Kommoden, daneben ein Couchtisch, vor dem rot-blau-gelb-grünen Sofa.

Michael Krause ist kein Asket, alles muss rein, auch der Kühlschrank mit dem Gefrierfach für Fischstäbchen und Pommes und die Mikrowelle, in der das Leibgericht aufgewärmt wird. Ein Poster der Deutschen Bahn zeigt einen ICE, Fotos vom Bund und ein „Phantom der Oper“-Plakat füllen die Wand daneben. Michael Krauses Wohnung hat nur ein Zimmer, dazu eine winzige Küche, zum Drehen und Wenden zwischen Herd und Spüle bleibt kaum Platz – ähnlich wie im winzigen Bad.

Die Wohnung hat nur zwei Quadratmeter Nasszelle, dafür aber zwanzig Quadratmeter Balkon: Durchströmt von Luft und Licht, so wurde sie auf dem Reißbrett geplant. Würde Mies van der Rohe die Einrichtung des Zollbeamten Krause sehen, er würde sich im Grabe umdrehen. Wahrscheinlich den ganzen Friedhof umbuddeln. Vor 75 Jahren hat er das Mehrfamilienhaus, in dem Michael Krause wohnt, für die Weißenhofsiedlung in Stuttgart entworfen.

Schnell gebaut und günstig sollten die Wohnungen der inzwischen weltberühmten Siedlung sein, Lösungen für die Wohnungsnot nach dem Ersten Weltkrieg demonstrieren. Das Ergebnis war eine völlig neue Wohnphilosophie: Die Archtiekten propagierten ein neues Bauen, das bürgerlichen Mief, Biedermeierkommoden und schwere Eichenmöbel verdammte.

Neben Mies van der Rohe haben hier fünfzehn weltberühmte Architekten einundzwanzig Häuser entworfen. Auch der Bauhausgründer Walter Gropius gehörte dazu. Er träumte davon, den Menschen ästhetisch zu erziehen, und schrieb: „Vom biologischen Standpunkt aus benötigt der gesunde Mensch für seine Wohnung in erster Linie Luft und Licht, dagegen nur eine geringe Menge an Raum, also ist es unrichtig, das Heil in der Vergrößerung der Räume zu erblicken, vielmehr lautet das Gebot: Vergrößert die Fenster, spart an Wohnraum.“ Biologischer Standpunkt, ästhetische Erziehung: Wovon redet der Mann, was bedeutet ihm der Mensch, dem er da diktiert, was gut für ihn sei, auf dass er gesund und funktionstüchtig bleibe? Um das zu verstehen, muss man den historischen Hintergrund kennen: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellte die AOK an einer Berliner Volksschule fest, dass siebzig Prozent der Kinder noch nie in ihrem Leben einen Sonnenaufgang gesehen hatten, weil sie in dunklen Hinterhöfen aufwuchsen, in Kleinstwohnungen mit überbelegten Zimmern.

Heute klingt der sozialhygienische Ton von damals abschreckend, selbstherrlich, passt so gar nicht zu unserem selbstbestimmten Individualverkehr. Und doch sollen sich die Menschen wie vor 75 Jahren der großen Idee von Licht und Raum unterwerfen. Die Weißenhofsiedlung steht unter Denkmalschutz, seit siebenundvierzig Jahren. Alles, was nach außen hin sichtbar ist, muss bleiben, wie es die Architekten van der Rohe, Gropius und Co vorgesehen haben. Tabu sind Zwerge und Stiefmütterchen im Garten, genauso wie die Markierung des eigenen Reviers mit Jägerzaun und Rosenhecke.

Die Immobilien verwaltende Doris Steinhilber und ihr Mann Peter Steinhilber, Mitglied des SPD-Landesverbandes Baden-Württemberg, leben nicht zufällig hier, nicht weil sie wahllos dringend irgendetwas brauchten. Die Steinhilbers wohnen absichtlich in einer Siedlung, die, so schrieb Adolf Behne, der Wortführer der Weimarer Avantgarde im Jahr 1930, den Menschen zum abstrakten Wohnwesen forme, ihm vorschreibe, „gegen Osten zu Bett zu gehen, gegen Westen zu essen und Mutterns Briefe zu beantworten. Die Wohnung wird so organisiert, dass er es faktisch nicht anders machen kann.“ Das klingt mechanisch, nach Fließbandarchitektur. Oder befreiend: Die Steinhilbers kamen aus einem alten, schweren Backsteinhaus, verließen ihre Wohnung im Stuttgarter Osten an einem Sonntagnachmittag. Klare, tolle Formen sahen sie auf ihrem Spaziergang durch die Weißenhofsiedlung und wollten nicht mehr ohne sie.

Damals wurden eine Corbusier-Wohnung und ein Mart-Stam-Haus frei. „Wir haben uns für Stam entschieden. Die Corbusier-Wohnung sah aus wie ein Zugabteil.“ Doris und Peter Steinhilber leben jetzt siebzehn Jahre in ihrem blauen Haus. „Das ist wie sechs Richtige im Lotto. Das erste halbe Jahr habe ich nur am Fenster gestanden. Ich konnte gar nicht genug kriegen: mitten in der Stadt und um mich herum nur Natur, ein Wahnsinnsausblick, alles hell und offen.“ Begeistert positioniert sich Doris Steinhilber vor der langen Fensterfront ihres Schlafzimmers und wartet, bis auch der Gast den Mund vor Staunen nicht mehr zukriegt.

Die Nachbarn von Michael Krause wissen, wo sie wohnen, erkennen den Wert, haben sich ästhetisieren lassen. Stapelweise Bücher über das neue Bauen haben sie studiert und besichtigt, was man in Deutschland noch besichtigen kann: die Gropius-Siedlung Dessau-Törten, die Hufeisensiedlung Berlin-Brix, die Siedlungen von Bruno Taut in Magdeburg, den Georgsgarten in Celle, den Dammerstock in Karlsruhe.

Dunkelrot, gelb und weiß sind die Wände gestrichen, der Stahlpfeiler im Wohnzimmer blau. Alles original. „Die Möbel haben wir für viel Geld im gleichen Blau streichen lassen.“ Passend dazu ein Freischwinger, der auf einem S-förmigen Rahmen statt auf vier Beinen steht und beim Sitzen federt. „Ein weltberühmter Stuhl, der immer als Mies-van-der-Rohe-Entwurf gefeiert wird, dabei ist er von Mart Stam.“ An der Wand hängt ein Mondrian-Druck, statt in schweren Schränken ist alles in Einbauschränken verstaut. Etwas verspielt ist nur die lilafarbene Sofaecke.

Doris Steinhilber versinkt im Lila, dreht den Kopf Richtung Fenster, guckt wieder berauscht ins Grüne. „Großartig, nicht?“ Ein Blick nach draußen genügt, um die nur vier, vielleicht sechs Quadratmeter kleine Küche und die Einbauschränke zu vergessen, in die einfach nicht alles reinpassen will, was eine Immobilienverwalterin und ein SPD-Landespolitiker so zum Leben brauchen. Und dann der Putz. Nach der Sanierung des Reihenhauses ist der frisch aufgetragene Außenputz mir nichts, dir nichts wieder runtergefallen, und vorn am Haus gibt es einen Wasserschaden, weil das Fundament fehlerhaft geplant wurde. Fast jedes Jahr müssen von Kondenswasser erblindete Fenster ausgewechselt werden. Die Architekten entwickelten nicht nur neue Wohnformen, sie experimentierten auch mit Baustoffen.

Vom berühmten Bauhaus hatten Ellen und Uwe Krümmel kaum eine Ahnung, als sie vor zwanzig Jahren in ihr Haus einzogen. Über die vielen weißen Wände und Türen waren sie ziemlich entsetzt – alles viel zu empfindlich. Inzwischen sind sie echte Scharoun-Fans. Auch wenn im Wohnzimmer Biedermeierkommoden stehen, mit kleinen Spitzendecken darauf und bunten Läufern darunter. „Die Möbel hatten wir schon. Man kann ja nicht einfach alles wegwerfen. Ein Architekt ist hier mal wie ein Irrer durchgeturnt und meinte, wir wüssten ja gar nicht, was so toll ist an unserem Haus. Aber wir wissen es sehr gut.“

Die Krümmels haben schon unzählige Geschichten über ihr Haus gehört, das von außen ein bisschen wie ein Schiff aussieht. „Oft sitze ich hier wie ein Gast.“ Studenten stiefeln dann durchs Wohnzimmer, und der Professor erklärt, dass Hans Scharoun mit der Sonne gebaut und Fenster wie Bullaugen entworfen hat, weil er früher zur See gefahren war. Ein Reisebus nach dem anderen entlädt sich bei Krümmels. Immer wieder sind sie Statisten auf japanischen Urlaubsfotos. „Unsere Nachbarn halten uns für verrückt, aber Bauwerke wie diese muss man zeigen.“

Und die Geschichte dazu erzählen. Von ursprünglich einundzwanzig Häusern sind heute nur noch elf übrig. Die Nazis schmähten die Weißenhofsiedlung als Araberdorf – wegen der als „undeutsch“ verpönten Flachdächer –, die Architekten wurden als Bolschewisten beschimpft. „Erst war hier der Befehlsstand für die Fliegerabwehr, nach dem Krieg lagen in unserem Wohnzimmer verletzte Offiziere.“ Ellen Krümmel kennt die Geschichte des Hauses aus dem Effeff. Im Zweiten Weltkrieg zerstörten Luftangriffe Teile der Siedlung, erst 1956 wurde unter Denkmalschutz gestellt, was noch übrig war. Doch wirklich gekümmert hat sich um die Architektur erst 1977 der Verein Freunde der Weißenhofsiedlung.

Seit der Sanierung gilt die Siedlung als echte Attraktion in Stuttgart. Zehntausende kommen im Jahr, glotzen in Gärten, Wohnstuben und Kaffeetassen. In der Rathenaustraße, im großen Corbusier-Haus, will die Stadt in den nächsten Jahren ein Weißenhof-Denkmalzentrum und eine Musterwohnung einrichten, die auch innen genau so aussieht, wie es der Architekt geplant hat.

„Das wird die Kommandozentrale, wo alle Busse ankommen, und sich die Besucher virtuell angucken können, wie die Weißenhofsiedlung früher aussah“, erklärt der Fachreferent für bildende Kunst, Gerd Dieterich. Disneyland auf dem Killesberg. Dabei gibt es schon eine Galerie und ein Informationszentrum, klagen die Bewohner. Was fehlt, sind Parkplätze, ein kleiner Supermarkt und, so findet zumindest Michael Krause mit den dicken Wollvorhängen, doppelverglaste Kunststofffenster.

In Karlsruhe geht’s etwas freizügiger zu. In der Dammerstocksiedlung sind doppelverglaste Kunststofffenster Standard, Räume wurden neu aufgeteilt, in fast jedem Vorgarten stehen Fahrradschuppen. Kohlenkeller sind jetzt Toiletten, Loggien heizbare Wohnräume. Zwei Jahre nach dem Bau der Weißenhofsiedlung gewann Walter Gropius mit seinen Plänen den für die Dammerstocksiedlung ausgeschriebenen Wettbewerb. Die Ausschreibung forderte, worin unter anderen das Ehepaar Reb seit neunundzwanzig Jahren lebt: Gebrauchswohnungen, auf dem damals neuesten Stand der Bauwissenschaften, vierzig bis siebzig Quadratmeter groß, für kleine Einkommen.

Magarete und Günter Reb sind glücklich hier. Das Einzige, was sie stört, ist, dass sie keine Rollläden anbringen dürfen. „Mit Läden würde ich mich sicherer fühlen“, sagt Magarete Reb, „aber die verkürzen angeblich die Fensterstürze und würden die Fassadengestaltung zerstören.“

„Der Dammerstock ist heute das konsequenteste Beispiel einer Siedlung im Zeilenbau“, schrieb Adolf Behne. Hier werde der Mensch zum abstrakten Wohnwesen, mag er am Ende auch über all den gut gemeinten Vorschriften der Architekten stöhnen: „Hilfe … ich muss wohnen!“ An den Fortschritt, an Fords Fließbänder hätten sie gedacht, die ganze Siedlung mit ihren zweihundertfünfundzwanzig Wohnungen scheine auf Schienen zu stehen, so Behne.

Haben die Rebs sich daran gewöhnt? Nicht nur das: Wie Steinhilbers schwärmen sie von lichtdurchfluteten Zimmern, klaren Formen – und ärgern sich über so manchen Nachbarn, der diese zerstört: „Ein Teil der Reihenhauszeile im Bussardweg ist privatisiert. Und so sieht es dort auch aus!“ Maßgeschneiderte Rasenflächen wurden in Obst- und Gemüsegärten verwandelt, zugepflastert oder mit Schneeglöckchen übersät. Vor die Nummer vierundzwanzig hat einer vor Jahren eine Tanne gepflanzt, die inzwischen das halbe Haus verdeckt und verschattet. Vor den Fenstern der Nummer sechsundzwanzig werden jeden Morgen dicke Läden auf- und am Abend wieder abgerollt. Die Haustür ist aus braunem Glas, eine bruch- und stoßfeste, aber stillose Baumarktfertigtür, darüber hängt ein dunkelbraunes Vordach.

In der Dammerstockstraße hocken vor der Häuserzeile kniehohe Gipsfiguren, die geformt sind wie Eulen, Katzen und dicke Gärtner. Lässt sich über Geschmack streiten? Immer wieder, aber da hat’s eben jemand gern gemütlich. Problem nur: Lässt man sich auf die Siedlung als Ganzes ein und springen einem dabei immer wieder aus Gips gegossene dicke Gärtner und braune Glastüren ins Auge, werden die geraden, klaren Linien gebrochen, wird die Idee von Transparenz und freien Plätzen zerstört. Schon Le Corbusier schwante bereits 1936, dass die Menschen mit solchen Freiräumen nicht würden umgehen können, mehr noch, „dass die immensen offenen Räume, die ich in unserer imaginären Stadt erschuf, Räume, die auf allen Seiten vom offenen Himmel beherrscht wurden, tote Räume würden; ich befürchtete, dass in ihnen Langweile herrschen würde und dass die Bewohner einer solchen Stadt beim Anblick einer so großen Leere von Panik ergriffen würden“.

GESINE KULCKE, 32, lebt als freie Autorin der Agentur Zeitenspiegel in Stuttgart. Sie wohnt „schrecklich, in einem dunklen Neubau“ und sucht gerade etwas Helleres