Was ist Wohnen? 5 logische Antworten

Menschheitsgeschichtlich betrachtet, handelt es sich um eine deutlich jüngere Erscheinung. Der in vorvergangenen Zeiten übliche Aufenthalt in Höhlen, Hütten oder Zelten hat wenig mit dem zu tun, was wir heute unter „wohnen“ verstehen. Erst im Mittelalter etabliert sich die Bedeutung „sich aufhalten, bleiben, gewohnt sein“ für das Verb wonen, das ursprünglich „nach etwas trachten, gern haben“ meint und auf dieselbe Wurzel wie das Verb „gewinnen“ („kämpfen, streiten, sich plagen, leiden, erringen“) zurückgeht – im Sinne von „umherziehen, streifen, nach etwas suchen“. Wer heute wohnt, meint, längst gefunden zu haben.

Wohnen ist ein Phänomen der Neuzeit. Mit „sich aufhalten“ (in einem Haus, Gebäude, in Innenräumen) ist die heutige Wortbedeutung nicht erschöpft. Wenn ich mich in der Wohnung eines Freundes aufhalte, wohne ich dort noch lange nicht. Notwendig ist immer der Bezug zum Eigenen, also zum Ich. Wohnen gehört in die Kategorie „moderne Identität“.

Wohnen ist ein so genanntes Tuwort. Dennoch ist, streng genommen, „wohnen“ selbst keine Tätigkeit. Es wäre albern, sich in die eigene Wohnung zu stellen und zu behaupten: „Ich wohne gerade.“ Wer vom Wohnen spricht, tut dies meist in einer Situation, in der er eben gerade nicht wohnt und sich auch nicht in der eigenen Wohnung aufhält („Ich wohne direkt am Wald, im dritten Stock, seit zwanzig Jahren allein, zur Untermiete.“). Die eigene Wohnung für fremde Blicke zu öffnen bedeutet, Auskunft über die Verfasstheit der eigenen Existenz zu geben und damit oftmals aussagekräftigere Informationen über sich zu liefern als durch scheinbar intimere Selbstauskünfte wie „Ich bin Vegetarier“. Wohnen ist ein Vorgang, bei dem das innere Sein im Äußeren abgehandelt wird, denn im Wohnen nehme und gestalte ich mir einen eigenen Raum.

So prosaisch wie vage definiert der Brockhaus „wohnen“ als zusammenfassende Bezeichnung für einen elementaren Bereich der Daseinsvorsorge. In der Tat liefert das Wohnen den Rahmen für eine Vielzahl von Tätigkeiten, darunter auch existenziell notwendige wie schlafen und essen. Um diese Tätigkeiten ausüben zu können, bedarf es des Rahmens aber nicht zwingend. Der Rahmen ist, grob gesagt, überflüssig; er ist ein Zusätzliches, ein Konstrukt. Ich kann mich ernähren, wärmen, ausruhen und so weiter, ohne über eine Wohnung zu verfügen, mit einem Wort, ich kann leben und Mensch sein, ohne zu wohnen. Man denke an Diogenes in der Tonne. Notwendig ist das Wohnen hingegen, um zu einer Gruppe, einem Verbund, einer Gesellschaft zu gehören, also für die soziale Existenz. Das Wohnen macht aus dem Was (zum Beispiel Kochen) ein Wie (Einbauküche oder Kochnische) – womit das weite Feld von Geschmacks- und Stilfragen betreten ist, ergo wiederum der Bereich der Identität.

Zusammenfassend kann gesagt werden: Im Wohnen zeigt sich erstens, wie Gesellschaften strukturiert sind – hierarchisch (ja!), konformistisch (ja!), statusorientiert (ja!), plural (das auch!) et cetera. Die deutsche Eigenart etwa, Häuser grundsätzlich zu unterkellern, öffnet sozialpsychologischen Spekulationen genauso Tür und Tor (Gründlichkeit & Solidität) wie die hierzulande auffällige Vorliebe für Reihenhaussiedlungen mit Vorgartenparzelle (Streben nach Freiheit im engen Rahmen, Sehnsucht nach Sicherheit). Zweitens ist das Wohnen heutzutage – ganz ähnlich wie die Arbeit – als die große identitätsbildende Aufgabe des Individuums zu begreifen. Wer scheitert, scheitert komplett. Das ist dummerweise ein Dilemma.

VERENA KERN