Der Aussitzer

„Nennen sie mich nicht Rumäne“, sagt Niculae Carjea, „mit diesem Land habe nichts zu tun“„Wenn ich nicht zurück nach Deutschland darf, dann werde ich hier im Transit sterben“Niemand zwingt ihn, auf dem Flughafen zu bleiben. Er könnte zur Tür hinausspazieren

AUS BUKAREST KENO VERSECK

Die Leute aus Laichingen konnten seinen Namen nie richtig aussprechen. Er war ganz einfach „der Nicu“. Laichingen ist ein kleiner Ort auf der Schwäbischen Alb. Alles könnte ganz einfach sein, denken die Leute hier.

„Der Nicu …“, sagt Renate Gross, seufzt und schwäbelt sich in Empörung. „Des kann i net akzeptiere, dass so einer, dass der abgeschobe wird.“ Fast zehn Jahre hat „der Nicu“ in ihrer Firma gearbeitet, als Monteur für Heizungs- und Lüftungsanlagen. Renate Gross wird jetzt richtig laut. „Er fehlt uns auch in der Firma. Wir habe seither keinen Ersatz.“

„Der Nicu“, sagt Erhard Betz, sein ehemaliger Nachbar. „Der hat einen ständigen Kampf mit den Behörden geführt.“ Betz ist 55 und Rentner. Er sagt: „Beim Nicu habe ich zum ersten Mal im Leben persönlich mitbekommen, wie Leute von Behörden schikaniert werden können.“

Niculae Carjea alias Nicu ist staatenloser Rumäne. Mehr als zehn Jahre hat er in Laichingen gelebt. Im April 2002 wurde er aus Deutschland abgeschoben. Seitdem wohnt der 43-Jährige in der exterritorialen Zone des Bukarester Flughafens. Seit einundzwanzig Monaten in einem nackten, dreieinhalb mal zwei Meter großen Raum. Darin stehen ein eisernes Feldbett, zwei Stühle und ein Tisch. In einer Ecke lagert Carjea ein paar Kartoffeln, Zwiebeln und Konserven. An einer Wand klebt ein winziges Bild der Mutter Gottes. Sie blickt in die Ferne und weint.

Niculae Carjea will zurück nach Deutschland. Er weigert sich, rumänisches Territorium zu betreten. „Nennen Sie mich nicht Rumäne“, sagt er leise und sehr entschieden. „Ich bin Staatenloser. Ich habe mit diesem Land nichts mehr zu tun, gar nichts mehr.“

Carjea ist ein kleiner, athletischer Mann mit kahl geschorenem Kopf. Beim Sprechen ballt er die Faust. Er beugt seinen breiten Oberkörper nach vorn, senkt den Kopf und blickt durchdringend. Er sieht aus, als setze er zu einem Sprung an. „Sie müssen ganz genau verstehen“, sagt er scharf, „worum es geht.“

Carjea, Niculae, geboren 18. 2. 1960 in Ocna Sibiului, Zehnklassenabschluss, danach Arbeit als Elektriker im Autoersatzteilwerk Hermannstadt, Siebenbürgen, Heirat, ein Kind. Weigert sich, in die kommunistische Partei einzutreten. 29. April 1985: Ein angetrunkener Milizionär überfährt Carjeas Vater, 51.

Damit hat alles begonnen. Erst Trauer, dann Wut und danach der ganze Ärger. Carjea erzählt von jenem 29. April 1985, fünf Uhr morgens. Sein Vater ist im siebenbürgischen Hermannstadt auf dem Weg zur Arbeit. Der Milizionär Mihaiu Joarza überfährt ihn auf der Alba-Iulia-Chaussee mit hoher Geschwindigkeit, der Vater fliegt zwanzig Meter durch die Luft, ist sofort tot. Der Polizist ist angetrunken, es gibt keine Bremsspuren am Unfallort.

Carjea will eine Anklage. Die Miliz legt den Fall zu den Akten. Stattdessen erscheinen die Geheimpolizisten von der Securitate, monatelang, immer wieder. Sie besuchen Carjea zu Hause, am Arbeitsplatz, drohen ihm mit Kündigung und mit Konsequenzen für Leib und Leben für den Fall, dass er auf einer Anklage besteht. Er besteht darauf. Sie wird nicht zugelassen. Das ist der Augenblick, in dem Carjea aufhört, an sein Land zu glauben.

1. Mai 1988: Versuch, aus Rumänien zu fliehen, fünf Monate Gefängnis. 15. September 1989: Zweiter Versuch, zweieinhalb Jahre Gefängnis, Freilassung am 29. Dezember 1989, sieben Tage nach dem Sturz des Diktators Ceaușescu. Dann ein halbes Jahr später, im Sommer 1990, in den Wirren des Umbruchs, verlässt Carjea Rumänien. Er glaubt nicht an einen Wandel zum Besseren in seinem Heimatland. Er will normal leben. Und er will nie wieder zurückkehren.

In Deutschland stellt Carjea einen Asylantrag. In Laichingen, wohin ihn die Ausländerbehörde schickt, findet er Arbeit. Er zieht aus dem staatlichen Wohnheim aus, bezahlt selbst eine Mietwohnung. Er arbeitet viel, ist verlässlich. Das finden die Laichinger gut. Niculae Carjea ist ein angesehener Mann unter den 8.000 Leuten im Ort.

Sein Asylantrag wird 1994 abgelehnt. Schon drei Jahre zuvor hat er seine rumänische Staatsbürgerschaft abgegeben, in der Hoffnung, dann nicht mehr abgeschoben werden zu können. Jahrelang hangelt er sich von Duldung zu Duldung. Eine Gruppe Laichinger bittet den Landtag in Baden-Württemberg in einer Petition um ein Bleiberecht für ihn. Vergebens. Am 22. April 2002 muss Carjea Deutschland verlassen. „Die Polizisten kamen ohne Vorankündigung zu meinem Arbeitsplatz“, erzählt er. „Sie steckten mich in einen Wagen und fuhren mich bis zur Treppe des Flugzeuges in Stuttgart. Als ich meinen Anwalt anrufen wollte, meinten sie: „Du brauchst keinen Anwalt mehr.“

Deutschland ging es ums Prinzip. Um das des Loswerdens. Warum der Landkreis Alb-Donau Carjea unbedingt loswerden wollte, ist nicht so leicht nachzuvollziehen. Im Regierungspräsidium Tübingen wurde die Abschiebung angeordnet. Friedrich Weber, Jurist und Sprecher des Regierungspräsidiums, hat die Akten zum Fall aus dem Archiv geholt, hat sie durchgesehen, aber Detailfragen, sagt er, entzögen sich seiner Kenntnis.

„Rumänien hat ein Rückführungsabkommen unterzeichnet“, sagt Weber, „deshalb muss Deutschland die Staatenlosen abschieben.“ Er betont das Wort „muss“. Die Frage nach der Logik dieser Aussage kommentiert Weber mit einem ärgerlichen Brummen. Detailfragen, wie gesagt. Das alles ist ja auch schon Jahre her.

Die Ausländerabteilung des Landratsamtes für den Kreis Alb-Donau, wo Carjea über Jahre hinweg seine Duldungen beantragte, kann über die „Grenzen des Datenschutzes hinaus keine Auskunft zum Fall Carjea geben“. Also gar keine Auskunft. Warum wurde Carjea nicht vor eine Kommission für Härtefälle geladen, er hatte doch einen Arbeitgeber, der ihn behalten wollte? „Ich kann mir nicht vorstellen“, sagt Bernd Weltin, der Sprecher des Landratsamtes, „dass es bei vier Millionen deutschen Arbeitslosen einen solchen Härtefall geben kann.“

Niculae Carjea sitzt in seiner Zelle im Transitzentrum. Sitzt seit einundzwanzig Monaten. Und wartet. Und vertreibt sich hilflos die Zeit. Fast jeden Morgen ruft er bei irgendeiner rumänischen Behörde an, mal beim Innenministerium, mal bei einem Gericht, mal bei der Flughafenpolizei. Er verlangt, zurück nach Deutschland abgeschoben zu werden. Die Sekretärinnen kennen ihn schon.

Auf seinem Tisch hat Carjea Akten und Gesetzbücher gestapelt. Sie sind seine einzige Lektüre. Jeden Tag blättert er stundenlang in ihnen. Er zählt all die Abkommen, Konventionen, Gerichtsurteile und Paragrafen auf, die ihn nach Deutschland zurückbringen könnten. Müssten, ginge es gerecht zu. Es ist eine langwierige Aufzählung. Nach einer Weile fällt es schwer, in Carjeas aus Paragrafen konstruiertem Koordinatensystem noch den Überblick zu behalten. Aber es läuft immer auf den einen Punkt zu: „Die Tatsache, dass ich abgeschoben wurde, ist ein Bruch der deutschen Verfassung, Artikel 1: Die Menschenwürde ist unantastbar.“

Das Transitzentrum ist ein flacher, grauer Betonklotz mit Gittern vor den Fenstern. Er steht am Rande des Flughafens, dicht am hinteren Endes einer Start- und Landbahn. In einem Raum hängt ein rumänisches Zeitungsfoto von Otto Schily, unter seine Nase hat jemand ein Hitler-Bärtchen gemalt. Im Herbst war eine Delegation der Europäischen Union hier, sie hat Rumänien aufgefordert, ein Badezimmer einzubauen, seitdem gibt es eine Dusche.

Verpflegung erhält Carjea von den Behörden keine, dazu sei man nicht verpflichtet, sagt ein rumänischer Grenzpolizist. Ab und zu kommt Carjeas 25-jähriger Sohn Nicu-Gabriel mit Essensrationen zum Flughafen. „Ich soll vernichtet werden“, sagt Carjea scharf. „Dies ist ein Vernichtungslager. Sogar in den Konzentrationslagern bekamen die Insassen etwas zu essen.“

Niemand zwingt Carjea, im Transitzentrum zu bleiben. Er könnte einfach zur Tür hinausspazieren, rumänisches Territorium betreten und seine alte Staatsbürgerschaft wieder annehmen. Mit neuen Papieren könnte er sogar legal nach Deutschland reisen. Der rumänische Innenminister Ioan Rus hat Carjea in einer Fernseh-Talkshow vor Monaten öffentlich das Angebot gemacht: Er solle zu ihm ins Büro kommen, er, der Minister höchstpersönlich, würde den Antrag auf Wiedereinbürgerung unterschreiben. Aber Carjea will nicht eingebürgert werden, nicht heute, und morgen auch nicht. Stattdessen wollte er den Innenminister verklagen, wegen seines Angebotes zum Rechtsbruch. „Meine Abschiebung aus Deutschland war illegal, also würde ich mich strafbar machen, wenn ich rumänisches Territorium betrete“, sagt er. Natürlich wurde die Klage nicht zugelassen.

Was, wenn Deutschland ihn einfach nicht zurücknimmt? „Dann werde ich eben hier im Transitzentrum sterben“, sagt Carjea leise und kühl. Er hat sein Testament gemacht. „Ich will verbrannt werden, meine Asche soll über der Freiheitsstatue von New York in den Wind gestreut werden.“ In seinem Ton liegt keine Spur von Pathos und kein Funken Ironie. Er meint es bitter ernst. Er ballt die Faust und sagt: „Ich werde dieses Land nicht einmal als Toter betreten.“