berliner szenen Ein höflicher Berliner

Alternative Stadtführung

Ein Mann mit einer gelben Regenjacke und zwei Frauen steigen am Alexanderplatz aus der Tram. Der Mann entfaltet einen Stadtplan und erklärt den Frauen den schnellsten Weg zu den Hackeschen Höfen. Als die Frauen alles verstanden haben, sagt er: Darf ich Sie fragen, woher Sie kommen? Aus Wien, antworten sie fast einstimmig. Ach, wie schön, sagt der Mann, das hab ich mir schon fast gedacht. Sie haben so einen wunderbaren Dialekt, den dürfen Sie nicht verstecken.

Sie sind doch nicht etwa nur wegen uns ausgestiegen, wollen die beiden wissen. Doch, sagt der Mann, das ist für mich eine Selbstverständlichkeit. Gerade habe ich erlebt, wie zwei andere Wiener einen Berliner nach dem Weg gefragt haben, und anstatt ihnen zu helfen, hat er nur mit den Schultern gezuckt und gesagt: „Keene Ahnung, wissense, ick bin nich von hier.“ Das ist nicht richtig, finde ich, so darf man keine ausländischen Gäste, vor allem keine Wiener, behandeln. Berlin und Wien sind doch die beiden Hauptstädte, deren Namen sich reimen, da besteht eine gewisse Verpflichtung.

Sie sind so hilfsbereit, sagen die Frauen entzückt, dabei verbeugen sie sich leicht wie die japanischen Touristen, die sich inzwischen von hinten an die Gruppe herangeschlichen haben, weil sie glauben, an einer spontanen, alternativen Stadtführung teilzunehmen. Der Mann schaut kurz in die Runde, angesichts der vielen Menschen wirkt er mit einem Mal etwas irritiert, er überlegt kurz, ob er seine Assoziationen ausführen soll, dann faltet er seinen Stadtplan wieder zusammen und sagt abschließend, als habe jemand nach einer Rechtfertigung für seine Freundlichkeit verlangt: Ich versuche nur dem Vorurteil, die Berliner seien übellaunig, entgegenzuwirken. JAN BRANDT