Armee und Gott im Vormarsch

Die Zukunft des Irak und von George W. Bush ist unklar. Über die Perspektiven von Staat und Gesellschaft in den USA lässt sich hingegen einiges voraussagen

Missionarseifer statt Sozialpolitik: Obdach, Suppe und Therapie gegen das Bekenntnis zu Jesus

In Washington schlägt die Stunde der Falken – und sie wissen kaum wohin mit ihrer Kraft. Einer der schlimmsten Diktatoren ist durch eine (völkerrechtswidrige) Invasion gestürzt worden. Nach allem, was man bislang weiß, sind dabei weniger Menschen gestorben als im (völkerrechtskonformen) Golfkrieg von 1991. Es hat weder die prophezeiten Flüchtlingsströme gegeben noch den großen Aufstand der „arabischen Straße“.

Dass viele Iraker ihre neu gewonnene Meinungsfreiheit jetzt nutzen, um „Ami go home“ auf Plakate zu malen, mag frustrierte Kriegsgegner freuen. Statt Genugtuung wäre Mut zur Ehrlichkeit angebracht: Die Friedensbewegung hat zwar richtig benannt, dass es der US-Regierung im Irak nie wirklich um Massenvernichtungswaffen oder al-Qaida ging, sondern um den Zugang zu Militärstützpunkten und die Privatisierung der Ölindustrie. Aber sie hat genau wie die Regierungen des „alten Europas“ vor lauter Empörung über die Arroganz der Hypermacht das Terrorregime in Bagdad aus den Augen verloren. Das Motto „Freiheit für die Iraker“ konnte die Bush-Regierung ganz allein besetzen – auch wenn die Demokratisierung des Irak in ihren Augen allenfalls ein „Kollateralbonus“ dieses Kriegs ist.

Niemand kann derzeit absehen, ob der Irak in zehn Jahren eine souveräne Föderation sein wird, ein Washingtoner Dauerprotektorat mit einheimischen Statthaltern oder eine Chaosregion, an der die USA die Lust verloren haben. Aber über die innenpolitische Zukunft in den USA darf man ein paar Prognosen wagen – und damit auch über das aktuelle amerikanische Verständnis von Staat, Recht und Religion, von Militär und Gesellschaft, das nun exportiert werden soll.

Beginnen wir mit dem Recht und der Rechtsstaatlichkeit: Eine Supermacht, die wie im Irakkrieg demokratischen Messianismus vorschützt und gleichzeitig befreundeten Diktaturen Al-Qaida-Verdächtige zur Folter übergibt, ist erstens ein Fall für amnesty international und hat zweitens ein Imageproblem. Gleiches gilt für eine Supermacht, die nach eigenem Gutdünken Al-Qaida-Verdächtige als „unlawful combattants“, als Irreguläre, auf einen exterritorialen Militärstützpunkt verschleppen lässt, sie dort behandelt wie Hühner in einer Legebatterie – und beim Anblick ihrer eigenen Kriegsgefangenen im irakischen Fernsehen mit der Genfer Konvention wedelt.

Kommen wir zum Staat und zur Religion: Die Trennung von Staat und Kirche bedeutete in der europäischen Geschichte die Freiheit des Staates von der Religion, in der US-amerikanischen verhieß sie die Freiheit der Religion vom Staat. Das erklärt die Wellen der religiösen „Erweckung“, die in den USA immer wieder die Politik und Teile der Gesellschaft erfassen. So auch jetzt. Der Erziehungsminister erklärt ganz ungeniert, christliche – private – Schulen seien säkularen – staatlichen – vorzuziehen. In der Sozialpolitik werden immer mehr Mittel gestrichen, stattdessen ist Missionarseifer im Angebot: Therapie, Suppe oder Obdach als Gegenleistung für das Bekenntnis zu Jesus. Sozial- und Bildungspolitik, auf die vor allem die Einkommensschwachen angewiesen sind, wird „entstaatlicht“ und durch religiöse, autoritäre Strukturen ersetzt. In dieser Hinsicht sind sich Bushs Ideologen und ihre islamistischen Erzfeinde durchaus ähnlich.

Bleibt die Frage nach der Rolle der Armee in einer Demokratie: In den USA treten neben den Evangelikalen auch Militärs immer häufiger als Lehrer und Sozialarbeiter auf. Im Rahmen eines „Juniorprogramms“ des Pentagons marschieren inzwischen eine halbe Million Schüler nachmittags in Uniform über den Schulhof, lernen Drill, Militärgeschichte und den Umgang mit dem Luftgewehr. In Städten wie Chicago werden krisengebeutelte Highschools gleich ganz unter militärische Verwaltung gestellt.

Die Armee hatte in den USA immer schon ein progressiveres Image als in Europa: Sie ist Integrationsfaktor, Sprungbrett zum College und Jobmaschine in einem. Nun wird sie auch als „effektivere“ Alternative zu zivilen staatlichen Institutionen angepriesen. Diese schleichende Militarisierung eines Teils der Gesellschaft findet seine Entsprechung in der Außenpolitik: Die Armee führt nicht mehr nur Krieg, sie verteilt humanitäre Hilfe und kontrolliert im Irak auch das „nation building“.

Durchaus möglich, dass sich das Pentagon mit dieser Invasion des zivilen Sektors bald überhebt. Aber vorerst wagt es kaum jemand, sich dem vor Sendungsbewusstsein strotzenden Militärapparat in den Weg zu stellen. Das fördert weder die Demokratie an der Heimatfront noch in befreiten Ländern.

Der Friedensbewegung hatte es angesichts der Siegerstimmung im Weißen Haus zunächst die Sprache verschlagen. Jetzt kursieren im Internet die ersten Aufrufe für die nächste große Kampagne, „regime change in the USA“. Nun darf man nicht glauben, dass sich die Supermacht mit der Abwahl von George W. Bush in einen multilateralen Musterknaben verwandeln würde. Der jetzige Konfrontationskurs mit den Vereinten Nationen begann schließlich schon unter Bill Clinton. Aber die Lust zur Demütigung der UN und des „alten Europas“ würde vermutlich nachlassen. Die Bürgerrechtler könnten etwas aufatmen – auch wenn die Gründung des „Big-Brother-Ministeriums“ für Heimatschutz kaum mehr rückgängig zu machen ist.

Das Militär hat in den USA ein progressives Image. Jetzt bietet eseine Alternative zur Zivilgesellschaft

Die Bush-Gegner jedenfalls wollen Spenden sammeln, neue Wähler registrieren und sie am 2. November 2004 notfalls ins Wahllokal tragen. Nach herrschender Meinung sind dabei die „apathischen und politisch desinteressierten“ Amerikaner, die angeblich die Hälfte der Wahlberechtigten ausmachen, das größte Hindernis. Aber vielleicht ist der apathische, unpolitische Nichtwähler ja ein Mythos. Joan Didion, die grand dame des politischen Journalismus in den USA, hat einmal geschrieben, Al Gore habe die Wahl 2000 verloren, weil er sich auf die „Entsäkularisierung“ des Wahlkampfs eingelassen habe und ernsthaft über Gottesfurcht statt Mindestlohn, Schulgebet statt Krankenversicherung debattiert habe.

Dieses Wahlkampf-Drehbuch ist nicht neu, es gehört zum Erbe Ronald Reagans. Herausgekommen ist die alle vier Jahre wiederaufgeführte inhaltsleere „Charaktershow“ der Kandidaten bei sinkender Wahlbeteiligung. Statt in der Öffentlichkeit mit politischen Programmen zu werben, tauschen die Kontrahenten hinter den Kulissen politische Zusagen gegen Wahlkampfspenden und Stimmen gut organisierter Interessengruppen. Didion nennt das sarkastisch den „Kreuzzug zur Rettung Amerikas vor seinen Bürgern“.

Er fand im November 2000 seinen Höhepunkt, als Al Gore eine ganze Generation jüngerer, säkularer Wähler und Wählerinnen vergraulte, die religiöses Sendungsbewusstsein weder in der Außen- noch in der Innenpolitik schätzen. Ob diese Generation 2004 an die Urnen geht, entscheidet letztlich über George W. Bushs Zukunft. ANDREA BÖHM