Persönlich haftbar

Der Frankfurter Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner ist wegen Nötigung im Amt angeklagt worden. Ist das gerecht? Er hatte einem Entführer Folter angedroht

VON HORST MEIER

In den USA brauchte es den 11. September. In Deutschland wird bereits seit Mitte des vorigen Jahrzehnts über die angeblich maßvolle Einführung verschärfter Vernehmungsmethoden nachgedacht: Der Heidelberger Rechtsprofessor Winfried Brugger profiliert sich seit 1996 in angesehenen Fachblättern als Vordenker der Folter.

Dabei heißt es in Artikel 104 Grundgesetz: „Festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch körperlich misshandelt werden.“ Im Kern geht’s nicht um Körperverletzung. Kein Gefangener darf – durch Hiebe und Tritte zu einem Bündel aus Schmerzen gemacht – bloßes Objekt polizeilicher Zwecke werden.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, lautet der erste Satz des Grundgesetzes. Ein kategorischer Imperativ: Nie wieder sollen deutsche Polizeistuben zu Folterkellern einer „Geheimen Staatspolizei“ werden. Auch das Völkerrecht ist eindeutig, zum Beispiel in Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950. Artikel 2 der Antifolterkonvention der Vereinten Nationen von 1987 lässt keine Ausnahme gelten: „Außergewöhnliche Umstände gleich welcher Art, sei es Krieg […] oder ein sonstiger öffentlicher Notstand, dürfen nicht als Rechtfertigung für Folter geltend gemacht werden.“

Winfried Brugger sieht das anders. Er meint: Der eindeutige Gesetzeswortlaut, der keine Ausnahme vom Folterverbot zulässt, führe in manchen Fällen zu „grob ungerechten“ Ergebnissen. Formaler Legalismus sei daher „absurd“, ja unerträglich. Um den Fehler des Gesetzgebers zu korrigieren, müsse man abwägen: das Grundrecht auf Leben Unschuldiger gegen die Menschenwürde von Terroristen. Dass im Ergebnis Opferschutz vor Täterschutz gehe, zeige schon eine Analogie zum „finalen Rettungsschuss“. Es ist gar nicht einzusehen, so Brugger, dass die Polizei den Bankräuber, der das Leben einer Geisel bedroht, notfalls erschießen dürfe, aber Terroristen, die das Leben tausender bedrohen, mit Samthandschuhen anfassen müsse. Nicht die Folter, nein ihr Verbot, in allen Fällen durchgehalten, führe zu einem „ethischen Skandalon“.

So gesehen scheint nur eine Schlussfolgerung konsequent: Die Polizei darf nicht nur, sie muss mitunter foltern. Das ist sie der Sicherheit und dem Leben unbescholtener Bürger schuldig.

„Gewissen Geistern muss man ihre Idiotismen lassen“: Mit diesem Spruch aus Goethes „Maximen und Reflexionen“ quittierte Egon Schneider in der Zeitschrift für die Anwaltspraxis die Folterthesen des Heidelberger Juristen. Im Fall Brugger haben es die meisten mit Goethe gehalten. Im Fall Daschner verbietet sich das: Keine fantastische Terrordrohung war da zu bewältigen, sondern eine herkömmliche polizeiliche Gefahrenlage.

Der Fall Daschner markiert den Übergang von der erdachten apokalyptischen Situation zu einem normalen Entführungsfall: „Dass die Zäsur zu wenig wahrgenommen wird, ist das Auffallende, wenn nicht sogar der Skandal“, schreibt Klaus Lüderssen in der Süddeutschen Zeitung. Ginge es nur um die Schlägerlaune einer marodierenden Polizeistreife, den „Ausrutscher“ eines Vernehmungsbeamten, man könnte zur Tagesordnung übergehen. Aber hier befiehlt ein Polizeioffizier Foltermethoden, vom Schreibtisch aus, mit gutem Gewissen. Der Fall ist ernst.

Es nimmt nicht wunder, dass Winfried Brugger die sonderbaren Vernehmungsmethoden des Frankfurter Polizeivize dazu genutzt hat, seine Folterthesen abermals in die Öffentlichkeit zu tragen. Nach gutem Juristenbrauch hat er eine handliche Formel gedrechselt, die nur noch im Gesetzblatt verkündet werden müsste. Aber eine Relativierung des Folterverbots dürfte nicht einmal Gegenstand einer Verfassungsänderung sein, die Garantie der Menschenwürde steht nicht zur Disposition (Artikel 79 GG).

Am Ende kommt alles darauf an, was man unter Menschenwürde versteht. Neuerdings wird in einem angesehenen Grundgesetzkommentar behauptet, dass Folter wegen ihrer „auf Lebensrettung gerichteten Finalität“ ausnahmsweise mit der Menschenwürde kompatibel sein könne. Gibt es also doch so etwas wie legale „Rettungsfolter“? Kann der gute Zweck ein von der Verfassung geächtetes Mittel heiligen? Die Vorstellung ist absurd, Folter könne ausgerechnet deshalb die Würde des Menschen nicht „antasten“, weil die Vernehmungsexperten edle Motive und hehre Absichten geltend machen: Wer foltert, verletzt gerade dadurch die Menschenwürde, was immer sein vorgegebenes oder wirkliches Ziel ist.

Rechtlich gesehen bleibt es beim kategorischen Nein: Staatsdiener dürfen nicht foltern. Nicht ausnahmsweise, auch nicht für eine gute Sache.

Das wäre ein schöner Schluss: Eine klare Rechtslage kommt mit einem klaren Rechtsgefühl zur Deckung. Aber so behaglich darf man sich die Sache nicht einrichten. Es ist Symptom eines recht unpolitischen Idealismus, unter Berufung auf die „Wertordnung“ des Grundgesetzes die Diskussion am entscheidenden Punkt abzubrechen.

Doch wo der Rechtsstreit ausgetragen ist, beginnt ja erst die politische Debatte. Sie führt in normativ ungesichertes Gelände. Die peinliche Frage lautet: Könnte nicht unter Umständen notwendig und rettend sein, was doch unter allen Umständen illegal bleibt?

Zunächst ist da der Ernstfall, der keiner ist, weil er sich in den Bahnen gewöhnlicher Kriminalität bewegt: Die Erstickung eines Kindes ist so beklagenswert wie der Mord an einem Taxifahrer oder ein blutiger Banküberfall. Gegen solche Taten greifen die üblichen Zwangsmittel des Polizei- und Strafrechts – gemäßigt durch alle Hemmnisse, denen rechtsstaatlich gebundene Polizeiarbeit unterliegt. Verschärfte Vernehmungsmethoden sind nach Paragraf 136a der Strafprozessordnung verboten.

Im Fall Daschner gibt es daher keinen triftigen Grund, das Verbot der Folter zu relativieren. Auch nicht durch das suggestive Abwägen von Lebensschutz gegen Menschenwürde. Die Rhetorik vom „Höchstwert“ Leben ist irreführend. In das Recht auf Leben darf „auf Grund eines Gesetzes eingegriffen“ werden (Artikel 2 GG), die Würde des Menschen hingegen wird in der Verfassung für „unantastbar“ erklärt. Das ist eine kaum geläufige, aber im Grundgesetz selbst formulierte Rangfolge.

Man muss „notfalls auch hohe Rechtsgüter opfern, um nicht langfristig die Zivilität, die Anständigkeit, das Lebenkönnen innerhalb einer Rechtsordnung zu gefährden“, sagte Winfried Hassemer, Strafrechtslehrer und Vizepräsident des Verfassungsgerichts, vor einem Jahr in einem Zeitungsinterview: „Ein zentraler Rechtsgrundsatz wie das Folterverbot muss abwägungsfest sein, sonst ist er zunichte.“

Aber gilt das selbst für den Ernstfall eines bis zum Massenmord gesteigerten Terrorismus? Bis zum Jahr 2001 wirkten die grell ausgemalten Horrorbilder reichlich überzeichnet. Doch nach den Angriffen auf die Twin Towers stellt sich das anders dar. Wie also könnte mit Extremfällen solchen Kalibers praktisch umgegangen werden? Wenn man das Verbot der Folter nicht durch Abwägung relativieren und auch nicht mit scheinjuristischen Argumenten vom Ausnahmezustand umgehen will, kann die Antwort nur lauten: durch eine offene politische Entscheidung.

Das Ethos der Rechtsordnung lebt davon, dass man sie ernst nimmt, und zwar gerade dann, wenn sie zu einem empörenden Ergebnis führt. Um das strikte Verbot der Folter darf man sich nicht herummogeln. Hier aber liegt der Kardinalfehler des Rechtsprofessors aus Heidelberg. Seine grenzenlose Auslegung stellt das geltende Recht auf den Kopf. Das Problem, klagt er, dürfe nicht „auf dem Rücken der Polizisten“, dieser „Ärmsten der Armen“, ausgetragen werden. Welch Irrtum!

Es liegt eine zivilisatorische Errungenschaft darin, dass, wer immer im Staatsdienst foltert, dies nicht unter dem Deckmantel der Legalität tun kann. Die „persönliche Verantwortung, auf die in solchen Konflikten natürlich alles ankommt“, so der Berliner Rechtsprofessor Bernhard Schlink im Gespräch mit seinem Heidelberger Kollegen Brugger, darf nicht in die Zuckerwatte einer juristischen Wohlordnung gehüllt werden (www.humboldt-forum-recht.de/4-2002/Seite1.html). Recht, das für jede unerhörte Lebenslage einen Paragrafen bereithält, lässt das im Staatsdienst agierende Subjekt verschwinden: organisierte Verantwortungslosigkeit wäre die Folge.

Dass Folter ohne Wenn und Aber rechtlich tabuisiert ist, hat eine eminent wichtige Warnfunktion. Die Folter ist nicht irgendeine Menschenrechtsverletzung. Sie gehört zum Äußersten dessen, was Staatsgewalt anrichten kann. Es lässt sich auf einem Dutzend Druckseiten gar nicht aufzählen, was die Folterspezialisten für Männer und Frauen oder deren Kinder alles bereithalten. „Die Tortur“, schrieb Jean Améry 1965 im Merkur, „ist das fürchterlichste Ereignis, das ein Mensch in sich bewahren kann.“ Sie ist die Rücknahme der Aufklärung, ein Zivilisationsbruch. Wer allen Ernstes Folterpraktiken verantworten will, darf dem radikal Bösen nicht ausweichen.

Was das praktisch bedeutet? Dass jeder Polizist, jeder Politiker, der wirklich glaubt, nun helfe nur noch „Rettungsfolter“, die Nerven haben muss, ein Verbrechen zu begehen. Sowie das charakterliche Format, unter Verzicht auf verschwiemelte Rechtsargumente das volle persönliche Risiko zu tragen. Lückenlose Dokumentation der Tortur in Bild und Ton, anschließende Selbstanzeige und unverzüglicher Rücktritt sind das Mindeste, was die Gesellschaft, in deren Namen sich dergleichen vollzieht, verlangen kann.

Der Rest ist Sache der Justiz, die über Aussageerpressung und Nötigung, über schwere Körperverletzung – womöglich mit Todesfolge – zu befinden hat: Nach dem rechtskräftigen Strafurteil und dem Berufsverbot bleibt die Verfassungsbeschwerde. Am Ende kommt vielleicht ein Amnestiegesetz oder ein Gnadenakt in Betracht. Dass „Gnade vor Recht“ ergeht, löst den Einzelfall politisch, betont aber noch in der punktuellen Suspendierung des Rechts die Geltung des Prinzips.

Folter bleibt also rechtlich tabuisiert. Folter im Staatsdienst ist immer verboten und unter allen Umständen ein Angriff auf die Würde des Menschen. Sie ist manchmal, in gewissen Kriminalfällen, eine Versuchung, der zu widerstehen ist. Und sie ist selten, im Extremfall des terroristischen Massenmords, eine Versuchung, der zu erliegen politisch diskutabel sein kann.

Das klingt nicht so beruhigend wie das kategorische Nein, das aus dem Grundgesetz folgt. Hat aber den Vorzug, die Spannungen zwischen dem Recht und dem Nützlichen, die Widersprüche zwischen dem Recht und der Moral, die Antagonismen zwischen dem Recht und der Gerechtigkeit nicht zu verschleiern. Ein wenig Klarheit kann der deutschen Folterdebatte nicht schaden. Die Welt geht juristisch nicht auf. Nicht einmal in Sachen Folter.

HORST MEIER, 49, Jurist und Autor, der regelmäßig für die taz schreibt, lebt in Hamburg. Die Langfassung seines Textes erschien in der Zeitschrift Merkur Nr. 656 (Dezember 2003)