Zwei Geschwindigkeiten

Trotz ihrer gesellschaftspolitischen Bedeutung und trotz ihrer Macht über Zeit, Raum und Wortschatz: Die Autobahn hat in der deutschsprachigen Literatur seit 1945 nur unwesentlich Spuren hinterlassen

VON JAN BRANDT

Maut-Desaster und Turbo-Rolf, Sekundenschlaf und Rekordstau, Geisterfahrer und Baustelleninformationssystem – die deutsche Sprache hat der Autobahn viele Neologismen zu verdanken. Und die Namen mancher Ausfahrten, Knotenpunkte und Raststätten wirken wie Sehnsuchtsorte aus Pulp-Fiction-Romanen: Auf der A 44 geht’s an Heiligenhaus-Hetterscheidt vorbei, auf der A 42 an Castrop-Rauxel-Bladenhorst und in Dresden auf der A 4 am Wilden Mann. Von dort ist es nicht weit bis zur A 9, an der es eine Raststätte gibt, der das Männermagazin Maxim 2002 in einem Test den niedrigsten Flirtfaktor bescheinigte, obwohl sie Nürnberg-Feucht heißt.

Der Einfluss der Autobahn auf den Alltag reicht aber weit über unseren Wortschatz hinaus. Die Autobahn hat Macht über Zeit und Raum. Der Verkehr organisiert unser Leben. Die Sommerferienregelung soll gestaffelt nach Bundesländern Staus vermeiden und bestimmt, wann Eltern Urlaub nehmen und Kinder die Welt entdecken. Das 11.980 Kilometer lange Streckennetz von Hamburg bis Basel, vom Ruhrgebiet bis Berlin ist der einen Lieblingsthema und der anderen Hassobjekt. Hier können postpubertäre Jugendliche vermeintliche Defizite kompensieren, gestresste Angestellte ihre Aggression ablassen und Fernfahrer ordentlich aufs Gas drücken. Die Autobahn ist ein unübersehbares Zeichen für Mobilität. Und: Sie ist die größte raumplanerische Umweltkatastrophe unserer Zivilisation.

Der Mythos Autobahn ist aber immer auch eine Inszenierung ersten Ranges. Kein Zufall ist es, dass die Autobahn dreimal in der deutschen Geschichte im Zusammenhang mit Krisen ins mediale Bewusstsein gerückt ist. Der Bau der Straßen des führerscheinlosen Führers sollte die Arbeitslosigkeit verringern, das Sonntagsfahrverbot in den Siebzigerjahren die möglichen Folgen einer Energieknappheit mindern und das Mautsystem von Toll Collect Geld in die leeren Kassen der Bundesregierung bringen. Die Autobahn ist ein Politikum, Gradmesser für den gefühlten Wohlstand des Landes.

Seltsam, dass ein Bauwerk mit einer derart gesellschaftspolitischen Bedeutung in der Literatur kaum eine Rolle spielt. Was der später bei einem Unfall auf einem britischen Motorway ums Leben gekommene Schriftsteller W. E. Sebald in seiner Poetik-Vorlesung 1997 an der Universität Zürich beklagte, dass die deutschen Schriftsteller in der Vergangenheit das Thema Luftkrieg sträflich vernachlässigt hätten, ließe sich also auch für den Umgang der Autoren mit der Autobahn sagen. Bisher nahmen ihre Protagonisten Schleichwege, um den Häschern zu entkommen, oder benutzten öffentliche Verkehrsmittel und tauchten in der Anonymität der Masse unter.

Siegfried Blum, Jörg Fausers „Schneemann“, flüchtet mit fünf Pfund Kokain von München nach Frankfurt mit der Deutschen Bundesbahn. Und der an der Oberflächlichkeit der Welt verzweifelnde Erzähler in Christian Krachts „Faserland“ reist von Sylt nach Zürich abwechselnd mit dem ICE und dem Flugzeug. Weder für die Gruppe 47 noch für nachfolgende Schriftstellergenerationen war die Autobahn ein Thema.

Es ist, als gäbe es Berührungsängste zwischen Autoren und Autobahn. Das längste Bauwerk des Landes hat in der deutschen Literatur seit 1945 kaum Spuren hinterlassen. Im Dritten Reich wurde im Gegensatz zur Nachkriegszeit eine Fülle von belletristischen Werken publiziert, in denen die Autobahn eine Rolle spielt – zu einer Zeit, als erst wenige Abschnitte fertig gestellt waren und sich kaum jemand ein Auto leisten konnte. Die Autoren schrieben – auch um die Propagandamaschine zu bedienen – die Zukunft herbei. Inzwischen aber scheint die Autobahn allenfalls in Nebensätzen auf.

Nur Thorsten Becker beschwört in seiner 1985 erschienenen Erzählung „Die Bürgschaft“ das literarische Potenzial der Transitautobahn nach Westberlin. Langsamkeit und Langeweile bilden hier die Voraussetzung fürs Erzählen. Die Transitautobahn zwischen der Bundesrepublik und der urbanen Insel im Osten Deutschlands bot von beidem genug. Strecke und Geschwindigkeit waren festgelegt, drei Stunden in einem von Kontrollpunkten eingegrenzten Vakuum, das es mit allen Mitteln der Kunst zu füllen galt.

In Beckers „Bürgschaft“ sind es Tramper, die mit ihren wilden Geschichten die Fahrt zum Abenteuer werden lassen. Einer, der Glatze heißt, aber kein Skinhead ist, erzählt von Saufgelagen und Eskapaden und stimuliert dadurch die Fantasie des Fahrers. Der Ich-Erzähler am Steuer könnte, zumindest was Alkoholkonsum und Freizeitbeschäftigung angeht, ein Vorläufer von Sven Regeners „Herr Lehmann“ sein. In Westberlin angekommen, wechselt er bald die Seiten, zieht von Kreuzberg in den Prenzlauer Berg und findet in den Kneipen an der Schönhauser Allee eine neue Heimat. Irgendwann hält er’s nicht mehr aus; er fährt auf die Autobahn und beschließt, mit einem Lada die Grenzanlagen zu durchbrechen.

In Gudrun Pausewangs im gleichen Jahr veröffentlichter Erzählung „Die letzten Kinder von Schewenborn“ ist es jedoch schon wieder vorbei mit den hoffnungsvollen Tramper- und Aussteigergeschichten. Zwei ungenannte Mächte haben mit Atombomben nicht nur Familien, sondern auch das deutsche Straßennetz zerrissen: „Der Vater führte uns auf die Autobahn Kassel–Frankfurt – oder auf das, was von ihr noch übrig war. An manchen Stellen war ihr Belag aufgerissen, wie geplatzt, und ihre Oberfläche war uneben geworden. Je weiter wir Richtung Frankfurt kamen, desto welliger wurde sie. Es schien, als sei sie geschmolzen.“

Nach der Wende sind apokalyptische Visionen nicht mehr zeitgemäß. In Peter Kurzecks Roman „Keiner stirbt“ von 1990 ist die Autobahn wieder das, was sie immer zu sein versprach: eine Möglichkeit, der dörflichen Enge auf schnellstem Wege zu entkommen. Kurzeck beschreibt ein ereignisarmes Wochenende Ende der Fünfzigerjahre: die „nasskalte, lausige Gegenwart“ von fünf Männern, die mit einem Lastwagen von Gießen nach Frankfurt fahren. Ganz im Stil des Neuen Realismus werden unzählige Details aneinander gereiht, Momentaufnahmen eines kleinbürgerlichen Lebens, Männer in Fernfahrerkneipen, an Tankstellen, auf Rastplätzen–saufend, immer rauchend –, vor einer modrigen Landschaft, die, sobald der Motor angelassen wird, selbst in Schwung kommt: „Jetzt fängt der VW-Bus, siehst du, fängt wirklich zu fahren an. Die Bäume winken, der Tag gerät in Bewegung.“

Ruckelnd geht es durch Kirch- und Lang-Göns, durch Klein- und Großen-Linden, vorbei an Kühen und Traktoren. Obwohl Kurzeck während der Fahrt den dörflichen Alltag schildert, erzählt er im Grunde vom Verschwinden der Provinz durch die Autobahn: „Umgehungsstraße, sagst du dir, sie hat sich ja vorher so hingeschlängelt die Straße. Durch das Gras und zwischen den Hügeln hindurch. Und ist doch mit jedem Jahr ein bisschen verbreitert, begradigt und ausgebaut worden, das ist jetzt die neue Zeit.“

In „Keiner stirbt“ dreht sich jedoch alles im Kreis. Es gibt keinen Anfang und kein Ende, es ist eine Reise von wenigen Kilometern, ein Ausbruchsversuch, der immer wieder ins Stocken gerät und schließlich zum Ausgangspunkt zurückführt. Auch die Autobahn ist kein Fluchtweg. Auf der nächtlichen Straße werden die Lichtblitze der Lastwagen, die angestrahlten Brücken und reflektierenden Hinweisschilder zu einem Alptraum aus Blech, Beton und Teer.

Etwas Vergleichbares wie Jack Kerouacs Highway-Novel „On the Road“ von 1957 hat die deutsche Literatur nicht hervorgebracht. Hier ist die Straße nicht bloß Kulisse, auf der sich die Handlung entfaltet, vielmehr gibt sie Stil und Rhythmus vor, ist Hauptfigur und Hintergrund zugleich. Kerouac nahm der Legende nach die Bewegung des Fahrens im Produktionsprozess auf, indem er vier Meter lange Papierrollen zusammenklebte und „Unterwegs“ auf einer 36 Meter langen Butterbrotpapierrolle schrieb, um seinen Schreibfluss nicht zu unterbrechen.

Sex, Drugs und Bebop, Geschwindigkeitsrausch und Freiheitsdrang, Rebellion gegen konventionelle Erzählweisen und festgefahrene Literaturvorstellungen vermischen sich so zu einem einzigartigen, rasanten Trip: „Im Nu waren wir wieder auf der Hauptstraße, und in dieser Nacht sah ich den ganzen Staat Nebraska vor meinen Augen abrollen. Hundertundfünfundsiebzig Sachen in einer Tour, eine pfeilgerade Straße, schlafende Städte, kein Verkehr. Der herrliche Wagen machte den Wind heulen; die Ebenen wickelten sich vor ihm ab wie eine Rolle Papier; den heißen Teer der Straße warf er ehrerbietig hinter sich. Wenn ich die Augen schloss, war alles, was ich sehen konnte, die Straße, die sich in mich hineinspulte.“

Eine Roadscape wie in den USA ist in Deutschland nicht denkbar. Selten öffnet sich der Blick in Täler und Schluchten, über weite Ebenen oder einen fernen Horizont. Schallschutzwände und Baumreihen zu beiden Seiten der Fahrbahn lenken die Wahrnehmung auf das Wesentliche: das Vorwärtskommen, so schnell wie möglich, ohne Rücksicht auf Verluste. Nicht der Weg, das Ziel ist das Ziel.

In derart ergebnisorientierten Strukturen entsteht selten Poesie. Das zeigt auch der im Dezember bei Rowohlt erschienene Roman „Bundesautobahn“ von Johannes W. Betz. Auf 400 Seiten beschreibt Betz einen Highway to Hell von München nach Düsseldorf. Bei der wilden Verfolgungsjagd, die sich Drogendealer und Bankräuber, Polizei und Sondereinsatzkommandos liefern, fallen eine Menge Schüsse und Sätze wie: „Die Autobahn hat ihre eigene Natur. Hier gilt das Recht des Stärkeren.“ Und: „Das hier ist Deutschland und nicht Vietnam.“

Trotzdem ähneln die Massenkarambolagen und abgestürzten Hubschrauber, die zerfetzten Körper und zerknüllten Blechlawinen einem Kriegsschauplatz. Betz, hauptberuflich Drehbuchautor von Action-Filmen, entfacht in seinem Krimi ein Inferno. Über weite Strecken ist der Roman aber nicht mehr als ein bis in alle Einzelheiten ausformuliertes Story-Board.

Das Buch passt ins Programm. Fast zeitgleich wurde vor wenigen Wochen ein DaimlerCrysler-Testfahrer wegen fahrlässiger Tötung und schwerer Gefährdung des Straßenverkehrs zu 18 Monaten Haft verurteilt und der Vertrag mit Maut-Betreiber Toll Collect gekündigt. Die Autobahn beherrscht den öffentlichen Diskurs. Und vielleicht bricht sie nun auch ins kulturelle Bewusstsein ein. Doch die Produktion guter Literatur kann mit der Geschwindigkeit auf deutschen Straßen nicht mithalten.