Am Beginn eines neuen Winters

Zuckerbrot und Peitsche: Für die kritische Intelligenzija Russlands verheißt die Wiederwahl Wladimir Putins nichts Gutes. Die russische Kulturszene bietet dem autoritären Regime ihre Dienste an und bettelt um Geld. Und die wenigen liberalen Intellektuellen packen ihre Koffer für die innere Emigration

Selbst die Intellektuellen wollen zurück zu den traditionellen WertenDas Regime hat wenig Probleme, die kritischen Stimmen zu unterdrücken

VON BORIS SCHUMATSKY

Nach der Wiederwahl von Wladimir Putin steht endgültig fest: Die Zukunft Russlands ist seine Vergangenheit. Der Wunsch nach einer starken Hand, der als Erklärung für Putins Popularität oft herhalten muss, ist im Grunde nichts anderes als der altbewährte pawlowsche Reflex: Zeigt der Staat die Peitsche, dann erhöht sich gleich die Speichelproduktion, weil es anschließend auch Zuckerbrot gibt.

Die Intellektuellen, vor 15 Jahren noch eine eifrige Kraft der Demokratisierung, müssen dies als Erste eingesehen haben. Ein Begriff aus der Sowjetzeit ist erneut in aller Munde: goszakaz – der staatliche Auftrag. Bereits zu Beginn der Regierungszeit Putins bat der Filmregisseur Nikita Michalkow, der bei jeder Gelegenheit Regimetreue und Patriotismus zur Schau stellt, den Präsidenten persönlich um staatliche Aufträge für sechs große Produktionen pro Jahr. Heute beabsichtigt die Regierung, über die Hälfte aller Filmproduktionen zu finanzieren. Die Voraussetzung dafür wäre jedoch die Zustimmung einer speziell für diesen Zweck eingerichteten Präsidialkommission.

Die dürfte derzeit kein Problem sein: Sogar Kinderbuchautoren versuchen inzwischen, einen goszakaz zu ergattern. Russische Künstler und Schriftsteller hatten sich bereits in der Zaren- und Sowjetzeit sehr gekonnt mit staatlicher Zensur arrangiert. Auf Putins autoritäre Wende reagieren sie nicht etwa mit erhöhtem politischem Engagement; im Gegenteil, die Intelligenz greift zu erprobten historischen Verhaltensmustern.

Jedes Mal, wenn das politische Regime in Russland eine autoritäre Wende durchmacht, werden kritische Intellektuelle als Erste zur Zielscheibe von Schikanen und Diffamierungen gemacht. Zar Alexander III. nannte die Kritiker der berühmten Regierungsdoktrin vieler absolutistischer Regime des 19. Jahrhunderts, „Autokratie, Orthodoxie, Volkstümlichkeit“, abschätzig „verfaulte Intelligenzija“. Für Lenin waren sie nicht „das Gehirn der Nation, sondern Mist“. Die Einstellung Stalins formulierte am besten Maxim Gorki, der kurz vor seinem Tod „das Aussterben“ der alten und die Entstehung der neuen „sowjetischen Intelligenzija“ verkündete. Während der gesamten Sowjetzeit waren die wenigen, offiziell zum Aussterben verurteilten kritischen Intelligenzler weiterhin geduldet. Es war ein kleiner Preis, den der Staat für die Unterstützung der meisten „Proletarier intellektueller Arbeit“ immer zu zahlen bereit war.

Und nun? Während in der russischen Kulturszene die Stimmen zunehmen, die dem Regime ihre Dienste anbieten und um Geld betteln, packt die liberale Intelligenzija die Koffer für die innere Emigration. Der Autor Wiktor Jerofejew beklagt etwa in einem Zeitungsinterview die Tatsache, dass nach den jüngsten Wahlen die russische Staatsduma ihre Unabhängigkeit eingebüßt hat. Statt aber gegen die anbahnende Autokratie aufzutreten, kommt Jerofejew zu einem erstaunlich besänftigenden Schluss: „Es gibt auch Glück im Unglück. Von dieser Situation wird die russische Kultur profitieren. Tolstoi, Dostojewski, Nabokow und Tschechow werden die Rolle unserer Abgeordneten einnehmen. Wir werden zu traditionellen Werten der oppositionellen russischen Intelligenzija zurückkehren.“

Jerofejews Demokratieverständnis spricht Bände über die Ursache der aktuellen Niederlage der russischen Zivilgesellschaft. Die kulturelle Situation in Russland wird zunehmend von einer neuen „nationalen Idee“ geprägt. Sie soll einerseits die Lücke der entmachteten sowjetischen Staatsideologie einnehmen, in ihrer Dogmatik geht sie jedoch auf die aufklärungsfeindliche Staatsdoktrin „Autokratie, Orthodoxie, Volkstümlichkeit“ zurück.

Im Frühjahr bei seinem Besuch eines russisch-orthodoxen Klosters sagte Wladimir Putin, die Kultur und die Kirche sollen nicht voneinander getrennt werden. Für seine Administration, die sich inzwischen offen um die Installation seiner eigenen Staatsideologie bemüht, wird heute die Kontrolle über Kultur und Bildung genauso wichtig wie vor zwei Jahren die Kontrolle über Massenmedien und politische Institutionen. Und Putins Bemühungen tragen Früchte: Der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche rief zur „aktiven Teilnahme an der Wahl des Präsidenten“ auf. Sogar russische Mönche wurden für die Putinwahl mobilisiert.

In Russland entsteht eine „neue Form des Autoritarismus, eine Allianz staatlicher Strukturen mit den Strukturen der russisch-orthodoxen Kirche“, sagt der Philosoph Michail Ryklin. Vor einem Jahr wurde eine religionskritische Kunstausstellung in Moskau von streng gläubigen Orthodoxen gestürmt, die mehrere Ausstellungsstücke zerstörten oder beschädigten. Der Überfall machte eine aus der künstlerischen Sicht unspektakuläre Ausstellung „Vorsicht, Religion!“ zu einem bis heute aktuellen Politikum.

Zum ersten Mal bildete sich damals eine Front aus Künstlern, Staatsbeamten und Kirchenfunktionären, die in ihrer Forderungen weit über die in Russland traditionell verbreitete Aufklärungsfeindlichkeit hinausging. Eine Gruppe antiliberaler Intellektuellen, darunter Nikita Michalkow, denunzierten die Darstellung von Christus auf dem Werbeposter für Coca-Cola und ähnliche Ausstellungsbilder als „Verunglimpfung russischer Nation und des Glaubens unserer Väter“. Die russische Staatsduma forderte den Generalstaatsanwalt auf, Ermittlungen wegen Verbreitung religiöser Anfeindungen gegen die Ausstellungsmacher einzuleiten. Das Strafverfahren gegen die Täter, obwohl sie den Überfall auf frischer Tat gestanden hatten, wurde monatelang verzögert. Ende Dezember eröffnete die Staatsanwaltschaft ein weiteres Verfahren, diesmal gegen die Ausstellungsmacher und drei der Künstler.

Der Schriftsteller Wladimir Sorokin meint, dass „in Russland ein politischer Winter einbricht. Das 15 Jahre lang andauernde Warmwetter ist zu Ende. Wie in den vergangenen Jahrhunderten wird Russland wieder zum autoritären Reich. Die Geschichte wiederholt sich in Russland leider nicht als Farce, sondern als Geschichte.“ Sorokin hat Grund zur Besorgnis. Seine Bücher wurden vor zwei Jahren von den Aktivisten einer putintreuen Jugendorganisation öffentlich verbrannt, danach wurde der Schriftsteller wegen angeblicher Pornografie strafrechtlich verfolgt.

Der neue russische Autoritarismus hat insgesamt wenig Mühe, die wenigen kritische Stimmen zu unterdrücken. Es gibt zwar in Russland immer noch wesentlich mehr Meinungsfreiheit als in der Zeit am Anfang der Perestroika. Die Nachfrage für unabhängige Meinungen ist jedoch unvergleichlich niedriger geworden. Einige Druckmedien und Internetausgaben, die noch nicht unter staatlicher Kontrolle stehen, haben weder politisches Gewicht, noch können sie die Existenzgrundlage ihrer Autoren sichern. Es ist also kein Wunder, dass die meisten Intellektuellen der Peitsche das Zuckerbrot vorziehen.