Überleben im Pappkarton

Die Straßenkinder im brasilianischen Salvador leben gefährlich. Das Hilfszentrum Axé weist Wege aus der Obdachlosigkeit

von PETER DAMMANN (Text und Fotos)

Das Geschäftsviertel Comercio ist ein Verkehrsknoten der Millionenstadt Salvador, der Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Bahia. Hier starten viele Buslinien, hier fahren die Fähren zu den Inseln, hier ist der Überseehafen mit seinen Frachtschiffen, hier sind die großen Banken und Bürohäuser. Ein gefährliches Revier: Selbst am Tage werden Menschen an den Bushaltestellen von bewaffneten Banden überfallen, Bankkunden verfolgt und ausgeraubt.

Nachts schlafen Hunderte Obdachloser in den Eingängen der Bürohäuser, zwischen den Büschen auf den Verkehrsinseln oder in Pappkartons am Zaun des Yachthafens. Dreißig Straßenkinder, die ohne ihre Eltern hier leben, kennen die Streetworker des Projekts Axé namentlich. Als Badezimmer dient den Kindern der kleine Fischerhafen. Sie arbeiten als Schuhputzer, bekommen von den Straßenhändlern kleine Hilfsjobs oder betteln Touristen an. Ihre sichersten Einnahmen aber haben die Kinder durch sexuelle Dienstleistungen. Geschäftsleute, Seemänner, Taxifahrer und Touristen sind es, die sich selbst von Neunjährigen oral bedienen lassen, für umgerechnet fünfzig Cent.

Die Polizei ist kein Schutz, bisweilen sogar im Gegenteil. Die vierzehnjährige Luala hatte mit ihren Freundinnen nachts in einer Hausruine gegenüber den Markthallen geschlafen, als der Polizist mit den gelben Augen kam, „Katzenauge“ genannt. Er schickte alle Mädchen weg, nur Luala musste bleiben und wurde von ihm vergewaltigt, als sie es abgelehnte, ein „Programm“ für ihn zu machen.

Veronica Santanas, die Koordinatorin der Streetworker von Axé, hat ihr Büro im neunten Stock eines Bürohauses in Comercio. „Luala will Katzenauge anzeigen, sie ist mit unseren Streetworkern unterwegs“, berichtet sie. Die 44-Jährige arbeitet schon von Anfang an bei Axé, einer brasilianischen NGO, die vor dreizehn Jahren gegründet wurde und für die Rechte der Straßenkinder kämpft. Axé – was im Afrobrasilianischen soviel wie die Energie des Lebens bedeutet – ist für die Straßenkinder Salvadors einer der wenigen Fluchtwege von der Straße. Das Projekt wird zu fünfzig Prozent vom brasilianischen Staat finanziert, der Rest stammt aus Spenden oder Fördergeldern von Organisationen wie Unicef.

Die Streetworker helfen den Kindern, Ausweispapiere zu beantragen, sie versuchen, den Kontakt zu den Eltern wieder aufzubauen, sie bringen die Kinder wieder in die Schule und sie sind die Brücke von der Straße in die verschiedenen Axé-Projekte. In der historischen Altstadt hat die Organisation ein dreistöckiges Haus, in dem Vierzehn- bis Siebzehnjährige Kurse in Mode, Tanz und Capoeira belegen können. In den Gruppen gibt es auch Gespäche über Liebe, Sex und Drogen. Die Jugendlichen sollen über die künstlerische Betätigung vermittelt bekommen, dass sie ihr Leben in die eigenen Hände nehmen müssen – und können. Vor allem sollen sie herausbekommen, was sie sich für ihr Leben wünschen.

Im Lauf der Jahre hat Axé hunderten von Kindern gezeigt, dass es auch für sie ein Leben jenseits der Obdachlosigkeit geben kann. Axé hat das Denken über die Straßenkinder in Brasilien verändert; selbst staatliche Streetworker und Polizisten besuchen Fortbildungen und Menschenrechtsseminare bei Axé. Trotzdem, sagt Veronica Santanas, reiche die Energie der zwölf Streetworker oft nicht aus, um auch nur die ihnen bekannten Kinder zu schützen.

Nach neuesten Zählungen gibt es jetzt weniger Kinder, die ganz ohne Verwandte in der Stadt leben, dafür hat der Anteil der Kinder zugenommen, die zwar ein Elternhaus haben, aber in der ganzen Stadt unterwegs sind, weil sie zuhause nicht gut aufgehoben sind. Teilweise gehen sie zur Schule, sie arbeiten jedoch auf der Straße und schlafen auch dort, wenn sie den letzten Bus verpasst haben. Nicht nur im Zentrum sind sie unterwegs, sondern auch in den reicheren Vierteln.

Der Leiter des Unicef-Büros in Salvador, Ruy Pavan, geht davon aus, dass heute 15.000 Kinder manchmal und dreihundert Kinder permanent auf der Straße leben. Die Kinder beider Gruppen sind jünger geworden, die meisten sind heute zehn bis fünfzehn Jahre alt. Das Schlimmste ist, wenn sie in die organisierte Kriminalität verwickelt werden, Crack rauchen und als „Flugzeugchen“ arbeiten, als Drogenkuriere.

„Es wird immer schwerer für uns, die Kinder zu schützen“, erklärt Veronica Santanas. „Das Klima ihnen gegenüber wird immer aggressiver, und sie sind schutzloser, seit größere Gruppen der Straßenkinder von der Polizei aufgelöst werden.“ Sie holt eine zwei Tage alte Tageszeitung aus ihrem Schreibtisch. Auf der Seite mit den Polizeiberichten ist ein Bild eines Rechtsanwalts, Allen Stanley aus den USA, ein Mann in kurzen Hosen und weißen Haaren, zirka fünfzig Jahre alt. Er wurde im Comercio mit einem zwölfjährigen Straßenmädchen inflagranti beim Oralverkehr erwischt. Der Polizei war Stanley schon bekannt, aber bisher hat er sich noch immer aus dem Gefängnis freikaufen können.

„Die größte Gefahr auf der Straße ist, dass du beim Schlafen mit einem Stein erschlagen, mit einer Flasche erstochen oder mit Benzin übergossen und angezündet wirst. Das ist vielen Kindern aus unser Gruppe passiert, viele sind gestorben“, erzählt Alex. Der Achtzehnjährige lebt schon seit zwölf Jahren auf der Straße. Gangs, die Straßenkinder umbringen, gibt es vor allem in den Vororten. Und dann fährt noch der weiße Kombi des Jugendrichters wie ein Hundefänger durch die Stadt. Er fängt Straßenkinder und bringt sie ins CAM, die Casa de acolhimento menor, ein Kindergefängnis.

Was passiert mit ihnen im CAM? Alex: „Im CAM machen sie dich kaputt, sie sind wahre Bestien, sie fesseln dich und sperren dich in eine Zelle mit fünfzig bs zweihundert anderen. Besonders schlimm ist es während des Karnevals, dann sind doppelt so viele im CAM eingesperrt.“

Am nächsten Tag sitzen die zwei Streetworker, die das vergewaltigte Strassenmädchen Luala zur Polizei begleitet haben, im Koordinationsbüro. Sie sind niedergeschlagen. Luala ist aus einer sicheren Unterkunft abgehauen und wieder auf der Straße unterwegs, sie hat es ohne Drogen nicht ausgehalten. „Wenn Katzenauge von der Anzeige erfahren hat, schwebt sie jetzt in Lebensgefahr“, sagt Veronica Santanas. Und mit einem Seitenblick auf die aufgewühlten Streetworker: „Die beiden müssen erst noch lernen, dass wir nicht das Schicksal der Kinder sind. Wir können nur eine Hilfe sein, wenn die Kinder das Leben auf der Straße verlassen wollen.“

Ein Spendenkonto für Axé ist eingerichtet bei der Banco do Brasil, Agencia: 2957-2, Kontonummer: 8587-1, Stichwort Centro Projeto AxéPETER DAMMANN , 53, lebt in Hamburg und Bern und ist mit den Lookat-Fotografen in Zürich assoziert. Seine Sozialreportagen beginnen oft als freie Projekte, dabei sucht er die Zusammenarbeit mit Hilfsorganisationen. Seine Bilder werden u.a. gedruckt in Brigitte, Chrismon, du, Greenpeace-Magazin, Neue Zürcher Zeitung, mare und stern. Sein erstes in einer Zeitung gedrucktes Bild war in der Nullnummer der taz – vor über 25 Jahren. Seine Website: www.dammann-lookat.ch