Demokrat mit schwarzem Turban

AUS NADSCHAF KARIM EL-GAWHARY

Seit sechs Jahren ist Ajatollah al-Sistani nicht mehr aus dem Haus gegangen. Er muss es auch nicht, die Menschen kommen zu ihm. Meist werden sie in Gruppen vorgelassen, nur Mitglieder des Regierungsrats oder andere irakischer VIPs bekommen Einzelaudienzen. Amerikanische Besatzungsverwalter haben keinen Zutritt. Sie müssen über Dritte mit ihm kommunizieren.

Al-Sistani kann sich diese Einlasspolitik leisten. Er ist der oberste schiitische Geistliche des Irak. Sein Wort gilt in weiten Teilen des Landes als Gesetz. Keine politische Gruppierung kann ihn ignorieren, und für die US-Besatzer hat sich Ajatollah Ali Husseini al-Sistani unerwartet als große Herausforderung erwiesen.

Doch so groß seine Macht, so bescheiden ist der Lebensstil des Scheichs. In einer kleinen engen Gasse, unweit des Schreins Imam Alis im südirakischen Nadschaf, befindet sich sein einfaches, kleines Ziegelhaus. Nur ein paar Wachen am Eingang der Gasse und ein paar Poster an der Hauswand deuten darauf hin, dass al-Sistani hier residiert. Dann folgt ein graues, eisernes Tor.

Der 75-Jährige empfängt in einem einfachen Quartier. An einer weiteren Wache vorbei, die sich sehr höflich für die Leibesvisitation entschuldigt, werden die Besucher eingeladen, auf den Teppichen im Empfangszimmer Platz zu nehmen. Ruhig, fast flüsternd spricht dann der alte Scheich mit dem weißen Vollbart und dem schwarzen Turban, der ihn als einen Abkommen der Prophetenfamilie ausweist. Seine Antworten sind stets präzise und selten in die für Geistliche übliche Rhetorik gekleidet. Dieser Mann weiß, er findet Gehör. Im chaotischen Nachkriegsirak stellt er für die meisten Schiiten den einzigen Orientierungspunkt dar. Denn al-Sistani bietet nicht nur in geistlichen Fragen Rat.

Der Primus inter Pares

Dies ist eine Geschichte aus den ersten Tagen nach dem Krieg. Das Benzin war knapp, der Schwarzmarkt florierte, vor den Tankstellen bildeten sich lange Schlangen. Um dem Problem Herr zu werden, verfügten die US-Verwalter, dass an einem Tag nur gerade und an einem anderen nur ungerade Nummerschilder Kraftstoff erhalten. Doch das Chaos vor den Tankstellen wurde immer größer – wie der Ärger der Iraker. Eine Fatwa des alten Ajatollah gegen den Schwarzhandel reichte, und die Schlangen vor den Tankstellen schrumpften über Nacht auf ein Drittel.

Al-Sistani wird von einer großen Zahl der Schiiten als mudschtahid angesehen, als hochrangiger Rechtsgelehrter des Islam. Jeder Muslim muss sich laut schiitischem Glauben einen solchen mudschtahid als Vorbild aussuchen und Nachahmung üben, taklid. Und al-Sistani ist im Gelehrtenseminar von Nadschaf, der Hausa, der Primus inter Pares, weil sein Gefolge das größte ist, der oberste Gelehrte. Deswegen seine Autorität.

Und nicht nur das. Er gilt als einer von 20 lebenden Großajatollahs weltweit und verhilft Nadschaf derzeit wieder zu einer Renaissance. Einst das Zentrum des schiitischen Islam büßte Nadschaf unter Saddam Hussein seine weltweite Bedeutung ein. Der Diktator stellte Abul Kassem al-Choi, der als einer der größten schiitischen Gelehrten des 20. Jahrhunderts gilt, unter Hausarrest und zwang ihn, den Schiitenaufstand von 1991 scharf zu verurteilen. Nadschaf verlor seine Stellung an das iranische Qom und dessen prominentesten Repräsentanten Ajatollah Chomeini.

Al-Chois Schüler al-Sistani schickt sich nun an, Nadschaf wieder zu dem zu machen, was es mal war. Notwendigerweise macht er damit Qom den Rang streitig. Zwei völlig verschiedene Denkrichtungen stoßen da aufeinander. Beispiel dafür sind die beiden Fatwas von Ajatollah al-Sistani in Nadschaf und Ajatollah Nasser Makarem Schirasi in Qom zu ein und derselben Frage: das Rauchen.

Laut Schirasi stellt der Tabakgenuss eine Sünde dar. Er argumentiert mit einem Vers im Koran, indem die Muslime gewarnt werden, sich nicht selbst zu zerstören. Normalerweise wird dieser Vers nur zitiert, wenn es um Selbstmord geht. Al-Sistani dagegen urteilte, dass das Rauchen nicht als Sünde anzusehen sei, aber dass jeder, der versteht, dass es schädlich ist, davon ablassen sollte. Benutzt Schirasi Worte wie „obligatorisch“, verbreitet al-Sistani Empfehlungen. Beide trennt eine grundsätzlich unterschiedliche klerikale Haltung. Schirasi, der aus der Schule Chomeinis stammt, folgt dem Konzept der Welajat-i-Fakih, der Herrschaft des Klerus: Die Gläubigen sind unfähig zu entscheiden und bedürfen der geistlichen Anweisung und Führung. Al-Sistani dagegen hat aus seinem Widerwillen gegen dieses Modell nie einen Hehl gemacht. Er sieht den Klerus lediglich als eine Art „ethischer Berater“. Eine Rolle, die er im politischen Vakuum des Irak allerdings zunehmend ausgeweitet hat, nicht notwendigerweise aus Machtinteresse, sondern weil er glaubt, dass das Land Orientierung braucht. Dabei begreift er sich nicht als Tagespolitiker, sondern als Rechtsprofessor im Hintergrund.

Ajatollah al-Sistani entspringt ursprünglich einer Linie schiitischer Gelehrter, die sich in quietistischer Tradition anders als die Kollegen im Iran aus der Politik heraushielten. Das war nicht zuletzt auch eine Überlebensstrategie zu Zeiten Saddams – und eine Art Widerstand: Durch die Nichtbeteiligung wurde dem Machthaber in Bagdad jegliche Legitimität abgesprochen.

Krisensitzung in den USA

In den ersten Tagen nach dem Einmarsch der Amerikaner blieb der Scheich dieser Haltung auch treu. Er rief seine Anhänger lediglich dazu auf, mit den Besatzungstruppen zu kooperieren, um deren Abzug zu beschleunigen. Inzwischen aber ist nicht mehr zu übersehen: Aus der „ethischen Beratung“ sind mehr und mehr „politische Anweisungen“ geworden. Die Vetos aus dem kleinen Haus in Nadschaf bereiten den US-Besatzern in Bagdad ernsthaft Kopfzerbrechen. Denn sie wissen: Al-Sistani ist der eigentliche Grund für die relative Ruhe im Südirak. Ohne die Kooperation der Schiiten bekämen sie ein Problem, das den militärischen Widerstand im sunnitischen Dreieck nur wie ein kleines Vorgeplänkel aussehen lassen würde. Fast immer, wenn sich der Würdenträger in den letzten Monaten zu Wort gemeldet hatte, reiste daher US-Präfekt Paul Bremer zur Krisensitzung nach Washington.

Es begann damit, dass al-Sistani letzten November urteilte, eine endgültige irakische Verfassung könne nur von einem gewählten Gremium geschrieben werden. Washington legte daraufhin die Pläne, eine verfassungsgebende Versammlung einfach zu ernennen, auf Eis. Und auch bei der Übergangsverfassung, die stattdessen ausgehandelt wurde, redete der Ajatollah ein wichtiges Wörtchen mit. Wegen seiner Einwände musste ihre Unterzeichnung sogar um vier Tage verschoben werden.

Die Arbeit an der endgültigen Verfassung soll nun erst nach den Wahlen beginnen. Al-Sistani drängt auf einen Termin dafür in naher Zukunft und setzt die USA unter Druck, die das ganze Thema am liebsten bis nach dem US-Wahlkampf aufgeschoben hätten. Al-Sistani bleibt wenigstens in einem Punkt kompromisslos: Welches Gremium auch immer bis zu den Wahlen die Regierungsgeschäfte übernimmt, es darf keine wichtigen politischen Entscheidungen treffen. Solche Entscheidungen, sagt er, „sind allein einer Regierung vorbehalten, die aus freien Wahlen hervorgeht“. Ein Radikaldemokrat unterm Mullah-Gewand?

„Al-Sistani ist wie ein Wechselbad“, erklärt ein Pentagonbeamter: „An einem Tag ist er unser Freund, dann heißt es, er verfolge seine eigenen Ziele, dann wieder bedeutet er potenziell Ärger, nur um am nächsten Tag wieder als unser Verbündeter zu gelten.“ Manche US-Strategen halten al-Sistanis Ruf nach Wahlen nur für den nacktem Griff nach der Macht. Andere sehen in ihm den wichtigsten Garanten für Demokratie. Al-Sistanis Ruf nach einer multiethnischen und multireligiösen Regierung jedenfalls hat unter seinen Anhängern bereits Verbreitung gefunden. Und auch die Forderung nach einer Verfassung, in der der Islam zwar verankert, nicht aber das bestimmende Element sein soll.

Wie auch immer, es bleibt ein Paradox, dass ausgerechnet ein im Iran geborener Geistlicher der weltweit größten Demokratie Selbstbestimmung, Wahlen und Demokratie abtrotzt. Oder wie es der irakische Politologe Gailan Ramis fasst: „Es ist unglaublich, dass ein religiöser Geistlicher wie Sistani, den Irak vor dem Demokraten Bremer zu retten versucht, indem er Wahlen fordert.“