Mit der Motte leben lernen

Noch ist nichts zu sehen. Doch für die Kastanienminiermotten hat die Saison längst begonnen. Optimisten hoffen nun, dass zwischen Motten und ihren Feinden ein neues Gleichgewicht entsteht

von UWE RADA

Auf den ersten Blick ist alles im grünen Bereich. Auf den Kastanienblättern liegen, wenn überhaupt, ein paar regennasse Blüten. Der Rest der Blätter ist dunkelgrün und saftig, als ob es nie ein Problem gegeben hätte mit der Cameraria ohridella, besser bekannt unter dem Namen Rosskastanienminiermotte.

Doch der Schein trügt. An 21 ausgewählten Standorten in der Stadt überprüft das Pflanzenschutzamt derzeit den Flugverlauf der ersten von jährlich drei Mottengenerationen, die bereits im April geschlüpft ist. Wurden Ende April pro Falle knapp 300 Motten mittels Lockstofffallen gefangen, sind es nun bereits 1.300. „Darüber hinaus“, sagt der Chef des Pflanzenschutzamtes, Holger-Ulrich Schmidt, „können wir auch schon die erste Eiablage bestätigen.“ Teilweise seien sogar schon die ersten Eilarven geschlüpft. In drei bis vier Wochen, schätzt Schmidt, werde man dann auch die ersten Minen sehen, in denen sich die Larven durch die Blätter fressen, und die dem gefräßigen Kastanienschädling zu seinem Namen verholfen haben.

Der Kampf gegen die Miniermotte, den Umweltsenator Peter Strieder (SPD) im vergangenen Herbst mit einer eher symbolischen Laubsammelaktion führte, gleicht also eher dem des Don Quichotte als einem erfolgreichen Vernichtungsfeldzug. Zu viel Laub ist in den Parks liegen geblieben, zu viele Puppen haben überwintert. Außerdem hat sich der kalte Winter nicht negativ auf die Motten ausgewirkt, wie Uwe Rink von der Berliner Landesarbeitsgemeinschaft Naturschutz weiß. Der Grund: Durch Fettstoffwechsel produziert das Insekt Glycerin. Das lässt bekanntlich jeden Automotor unbeschadet durch den Winter kommen.

Gleichwohl ist die Witterung nicht unwesentlich an der Entwicklung der Mottenpopulation beteiligt. Bei kaltem und nassem Wetter ist der Mottenflug schwächer als an sonnigen, warmen Tagen, sagt Holger-Ulrich Schmidt vom Pflanzenschutzamt. Bleibt also die Hoffnung, dass es nach den mottenfreundlichen Flugbedingungen im April und Anfang März nun wenigstens bei der zweiten und dritten Flugperiode Ende Juni/Anfang Juli sowie im August aus Kübeln schüttet.

Wind hilft Alleebäumen

Ob der Miniermottenbefall in diesem Jahr noch schlimmer wird als im letzten, ist derzeit noch nicht abschätzbar. Ein Vergleich des Mottenfluges ist nicht möglich, da im vergangenen Jahr zur gleichen Zeit nur zwei Lockstofffallen aufgestellt waren. „Vorsichtig optimistisch“ ist Schmidt aber bei den Hofkastanien, deren Laub im Herbst beseitigt wurde. Gleiches gilt für Straßenbäume, deren Laub der Wind weggeweht hat. „In beiden Fällen können die Puppen nicht im Falllaub überwintern. Deshalb könnte der Anfangsbefall niedriger ausfallen als im letzten Jahr.“ Von den 60.000 Kastanien, die Berlin sein Eigen nennt, machen die Straßenbäume allerdings nur 21.494 aus. Vor allem in den Parks wird also auch in diesem Jahr der Herbst schon im Spätsommer beginnen.

Gleichwohl gibt es in der Miniermottenszene in diesem Frühjahr nicht mehr nur Katastrophenszenarien. War zuletzt noch davon die Rede, dass ein fortgesetzter Mottenbefall die Bäume auf Dauer schwäche, für andere Schädlinge anfälliger mache und letzten Endes zum Absterben führe, konzentriert sich das Augenmerk nun auf die natürlichen Widersacher. So wurden auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für allgemeine und angewandte Entomologie im März in Halle bereits ein Anstieg der so genannten Parasitierungsrate, also der Mottensterblichkeit durch Parasiten, von 5 bis 10 auf 30 Prozent berichtet. Darüber hinaus fanden Wissenschaftler vom Zoologischen Institut in Bern im Kastanienlaub mit Erzwespen erstmals einen Parasiten, der den Motten zu Leibe rückt.

Doch einen Anlass für Entwarnung ist das noch nicht. In Mazedonien, wo man bislang am Ohridasee den Ursprung der Cameraria ohridella und damit auch einen „eingespielten Feindkomplex“ vermutet hatte, ist die Parasitierungsrate nicht höher als hierzulande. Nun versuchen zahlreiche Forschungsteams im Rahmen des EU-Projekts „Contracam“ in anderen Regionen dem Rätsel der Miniermotte auf die Spur zu kommen.

„Wir sind noch weit davon entfernt, einen Gegenspieler zu haben, der sich auf die Motte spezialisiert hat und der unter Laborbedingungen herzustellen ist“, bilanziert Holger-Ulrich Schmidt die bisherigen Bemühungen. In Wien, wo die Miniermotte bereits seit zehn Jahren ihr Unwesen treibt, geht man deshalb davon aus, dass es noch einige Jahre dauern kann, bis sich zwischen Schädling und natürlichem Feind ein Gleichgewicht herstellt.

Schlafen statt Hungern

Selbst die zweite Möglichkeit eines neuen Gleichgewichts der Natur, das Absterben der Population infolge eines Verlusts der Nahrungsgrundlage, ist nicht zwingend. Selbst wenn die zweite Mottengeneration bereits alle Blätter weggefressen hat, muss die dritte nicht unbedingt an einer „Hungerkatastrophe“ eingehen, weiß Schmidt. „Die Puppen, die sich dann fallen lassen, schlüpfen dann eben erst im nächsten Jahr.“

Ob und wie sich in den nächsten Jahren ein neues biologisches Gleichgewicht einstellen wird, hängt also auch davon ab, ob und wie es den Kastanien gelingt, mit der Motte zu leben. Auch da gibt es inzwischen optimistischere Töne. „Solche Bäume haben in ihren oft 100 Jahren schon ganz andere Krisen durchgemacht“, sagt die Biologin Angela von Lührte, die sich unter anderem auf Jahresringanalysen spezialisiert hat. Eng kann es allerdings für die Bäume werden, die wegen des vorzeitigen Laubwurfes im Herbst noch einmal getrieben haben. Viele dieser Nottriebe sind bei den ersten Frösten im Oktober erfroren, der Ausschlag in diesem Frühjahr war entsprechend mickrig.

So sieht es also ganz danach aus, als ob es die Natur selbst sein wird, von der die Zukunft der Kastanie abhängt. Eine chemische Bekämpfung mit „Häutungshemmern“ wie Dimilin, wie sie etwa in Österreich, aber auch in Teilen Brandenburgs praktiziert wird, ist in Berlin nicht gestattet. Sie wäre auch nicht praktikabel, sagt Schmidt, da man in einer Stadt nicht flächendeckend sprühen könne.

So mancher Naturschützer kann die Aufregung um die Motte ohnehin nicht verstehen. Streng genommen, heißt es immer wieder, ist die Kastanie kein einheimisches Gewächs, ihr Aussterben wäre daher auch keine Katastrophe. Und wer weiß: Vielleicht werden wir ja in zwanzig Jahren unter Ginkgobäumen im Biergarten sitzen und Weißbier schlürfen. Die sind zwar auch nicht von hier, aber wenigstens – noch – ganz widerstandsfähig.