Lesen in Dackelhöhe

Sex war schon mal dunkler, Häkeln ist cool: Sieben Künstlerinnen, die auf vielen Hochzeiten tanzen gelernt haben, spielen in „Transgression“ bei Neurotitan lässig ihren Erfahrungsvorsprung aus

VON JENNY ZYLKA

In den 70ern war Lydia Lunch eine kajalstiftaffine Punkette, die sich nach den ersten 16 Jahren in der Kleinstadt dem New Yorker Punk-, Drogen- und Sexklüngel in die tätowierten Arme warf. In den 80ern schrieb und sang sie weiterhin über Leidenschaft, Gewalt und Sex, in den 90ern gehörte sie laut US-Presse zu den „zehn einflussreichsten Performern“. Und in den 00ern kam keine Doku über die New- und No Wave-Zeit ohne ein paar Lunch-O-Töne aus, in denen sie sich über die schlappe Jugend echauffiert, und dabei konsequent in Schwarz gekleidet, mit ihren roten Lippen und Haaren wie die immer noch angenehm biestige Mutter der Provokation wirkt.

Sie ist eine der sieben Frauen, deren Kunst in der Ausstellung „Transgression“ zu sehen ist. Von der zwischenzeitlich in Barcelona lebenden Lunch hängen Fotos in der Galerie Neurotitan, die ihre Themen allerdings schwächer abbilden als andere Medien, in denen sie zu Hause ist: Gegen ihre Bücher, wie der Biografie-Cocktail „Paradoxie“, ihre Filme oder Liveauftritte wirken die collagenhaften, dunklen Fotos wie abgepaust. Zwar finden sich auch darauf ihre Themen Sex, Gewalt, Verlangen, vor allem deren dunkle Seite; hier erahnt man einen Männerschwanz im Lunch-Mund, da hält ein Mann ein Kind eng (zu eng?) im Arm, aber Lunch im Bild ist nicht so gut wie Lunch live oder im Text.

Gudrun Gut im Bild ist dagegen beneidenswert präsent und aussagekräftig: Kann die Labelchefin, Musikerin, Radiomacherin vielleicht alles? Ein wandfüllendes, grob gepixeltes Hirschbild wird von drei orange-gelben Obstfotos pointiert. Daneben wellen sich plastisch und eindrücklich zwei große Fotos von auf dem Boden liegender Wäsche, der Schatten der Fotografin fällt wie ein Grauschleier drauf.

Offensichtlich kann sie wirklich alles, und auf die Frage einer Besucherin, wieso die Erklärungen zu ihren Bildern auf einem in Dackelhöhe an die Wand gepinnten Zettel stehen, lacht die hübsche Frau Gut: Ich wollte das in der Nähe der Steckdose haben. Dass sich alle Interessierten tief runterbeugen müssen, ist ein prima Effekt.

Über das Sofa müsste man sich die Bilder von Françoise Cactus hängen, denn die Musikerin und Schriftstellerin hat ihrem BZ-Covergirl Wollita Freundinnen in Kissengröße gehäkelt: Wie bunte Wollplattencover thronen die Büsten von „Courtney Wool“, „Kratz Jones“ und „Amy Wollmaus“ nebeneinander. Um den wolligen Haarschopf sind Lieblingssymbole lose angeordnet – Spritze und Flasche bei Amy, Spritze und Dollarzeichen bei Courtney. Wie schon bei Wollita wirkt das schlitzohrige Zusammenspiel der neben Makramee und Knüpfen blödesten aller Handarbeitsmethoden mit dem Inhalt Musik/Frauen/Drogen hervorragend. Cactus erntet zu Recht kichernde Bewunderung.

Gegenüber kann man sich beim „Bannbrecher-Parcours“ von Breeda C.C, Mitglied der Dead Chickens, in 13 Schritten vom Aberglauben befreien: Eine Leiter zum Drunterherlaufen steht in der Mitte, eine Zigarettenschachtel liegt bereit, um sich eine Kippe an einer brennenden Kerze anzuzünden, ein Spiegel kann zertrümmert und ein paar Schuhe können an einen Freund verschenkt werden.

Großzügig gibt Breeda Urkunden heraus, auf denen sie bescheinigt, dass das Unglück jetzt für immer abgewandt ist – das regelmäßige Geräusch des scheppernden Spiegels untermalte den Vernissagepegel aufs Unterhaltsamste.

Gegen so viel bodenständige und unkomplizierte Aussagen wirken die Bilder der US-Künstlerin und Exmusikerin Niagara fast etwas leblos. Auf Danielle de Piciottos unermüdlich mit feinem Stift gezeichneten Bildern von bizarren Karnevalszenarien und nackten Damen kann man dagegen lange herumgucken, um die abgründigen Details aufzunehmen. Gegen die visuelle Kraft der restlichen Arbeiten stinkt die Videoinstallation der kanadischen Multimediakünstlerin Myra Davies etwas ab.

Außer der im Ausstellungstitel anklingenden Grenzüberschreitung früher und heute haben einige der Frauen noch etwas gemeinsam: Anhand der gewählten Themen und Formen rät man, dass sie schon länger alive and kicking sind, als manche der BesucherInnen leben. Ob es an den Persönlichkeiten oder dem gewohnheitsmäßigen Auf-allen-Hochzeiten-Tanzen der Beteiligten liegt: Extrem jugendlich-frisch wirkt der unverstellte Umgang mit unverkopfter, direkter Gebrauchskunst, für die Amüsement kein Manko und Sophistication kein Muss ist, allemal.

„Transgession“ bei Neurotitan, Rosenthaler Str. 39, Mo.–Sa., 12–20 Uhr, bis 10. Januar