zwischen den Rillen
: Zwei Schritte vor, einer zurück

Top-Produzenten von heute und morgen: N.E.R.D. erweitern HipHop ins Unendliche, Kanye West geht zurück zum Sample

Zunächst, des besseren Verständnisses wegen, eine kleine Einsortierung der wichtigsten Player dieser Plattenbesprechung. Denn was sich für uninformierte Nicht-Nerds nach irgendwelchen total obskuren Typen anhören mag, die noch schlimmere Musik fabrizieren, sind in Wahrheit einige der absoluten Top-Namen im internationalen HipHop/Pop/R&B-Business.

Kanye West aus Chicago ist der Produzent der letzten, recht schnuften Britney-Spears-Single „Toxic“. Wichtiger jedoch ist sein Wirken auf die Musikbegleitung solch gewichtiger Rapper wie Jay-Z, Beanie Siegel, Scarface oder Talib Kweli. Die „Band“ N.E.R.D. hingegen ist identisch mit The Neptunes, dem Produzententeam aus Virginia, das in den letzten paar Jahren nahezu im Alleingang (neben Timbaland und Missy Elliott) einen stilprägenden Sound schuf, der nicht nur in wahnwitziger Rasanz von Mainstream-Pop-Acts wie Justin, Janet oder Britney aufgegriffen wurde.

The Neptunes/N.E.R.D. stehen nach wie vor als das derzeit begehrenswerteste Modell im Pop da. Eine Rolle, auf die sie ihren Anspruch mit dem zweiten N.E.R.D.-Album nachdrücklich festigen. N.E.R.D. sind derzeit die einzige Gruppe auf der ganzen Welt, die wirklich alle und alles vereinigen kann: und zwar mit hängenden Jeans und ebensolchen Augenlidern, es ist einfach phänomenal. Mit HipHop im engeren Sinne hat das nichts mehr zu tun. „Fly Or Die“ ist in erster Linie ein großes Rockalbum.

In den Siebzigern gab es eine Spielart von Rock, die, wenn schon nicht auf Discos zugeschnitten, so doch in Discos sehr gut funktionierte. Songs wie „Baby Love“ von Mothers Finest, „Black Betty“ von Ram Jam, diverse Tracks von AC/DC, Blue Oyster Cult, Doobie Brothers, Rolling Stones gehörten durchaus zum Repertoire einer Clubnacht. Neben einer grundsätzlichen Tanzbarkeit lag das vor allem an der starken, antiprogressiven Fokussierung auf das Knallen der Schlüsselelemente – kein Gedaddel, keine Spur zu viel, nur klare, kraftvolle Aussagen, selbst wenn sie komplexer psychedelischer Natur sein sollten.

N.E.R.D. sind so ein Modell unter den Bedingungen des digitalen Zeitalters, in der Welt von Protools. Dieses Programm zur Musikproduktion ist seit Jahren der höchste Standard in der modernen Klangbearbeitung und kommt hier besonders schön zur Geltung. Gut möglich, dass hier ursprünglich mal eine Band in Echtzeit zusammen im Studio gejammt hat. Aber danach wurde jeder einzelne Take aufs Akribischste beleuchtet, rejustiert, optimiert und bei Zufriedenheit an seinen nicht mehr hinterfragbaren Platz im Gesamtbild gestellt. Oder aber aussortiert und weggeschmissen. N.E.R.D. machen – neben ihren Helden Steely Dan – die kontrollierteste Rockmusik aller Zeiten. Niemand quietscht sich hier wild und frei, aber auch egoistisch-expressiv in den Vordergrund. Stattdessen gibt es wohl gesetzte, exakt abgezirkelte und feinstequalisierte Riffs und Figuren, gibt es für die Welt der Teenager-TV-Popmusik – denn in dieser Liga spielen N.E.R.D. nun mal auch – einige der abgedrehtesten und gewagtesten Akkordprogressionen und harmonischen Schlenker seit den Tagen von Jobim, Bacharach, der Beatles oder der Temptations.

Hohes Musikwissen ist auch das Kapital von Kanye West. Während N.E.R.D. dies aber in zum Teil halsbrecherischen, aber immer geglückten eigenen Kompositionen umsetzen, repräsentiert West das ursprüngliche Kerngeschäft von HipHop-Produzenten: das Samplen. Wir erinnern uns: HipHop begann mit DJs, die beste Breaks von zum Teil schlechtesten Platten aneinander schnitten, um dazu die Breaker dancen und die MCs rappen zu lassen. Der Sampler vereinfachte dieses Prinzip und wurde zur technischen Basis der klassischen Phase von HipHop zum Beginn der 90er-Jahre. Das „Buddeln in den Kisten“ wurde zu einer Hauptsportart, seltene, originelle Breaks für neue Platten zu finden und damit etwa auch die eigene Seelentiefe zu demonstrieren, zu einer Philosophie des Lehrens.

West beschreitet innerhalb dieser Praxis einen poppig-geschmackvollen Pfad. Eine Menge Soul von Chaka Khan und Aretha Franklin wird hier hochgepitcht und timegestretcht, wie es eben gerade so passt. „Pomp & Circumstances“ wird zitiert – das ganze Werk durchzieht eine gewisse existenzielle Erhabenheit. Dies hängt mit dramatischen Umständen im Vorfeld der Produktion zusammen. Bei einem Autounfall wurde West fast getötet, bei der Genesung nach dem Zusammenflicken stellten sich kathartische Regungen ein. Wie mancher Rapper vor ihm hat West diese Gemütsverfassungen umgehend in Musik umgesetzt und in Worte gefasst. Als Rapper ist er allerdings auf der Langstrecke nicht unbedingt der Fesselndste, gleichzeitig packt auch nicht jeder seiner Tracks zu wie „Through The Wire“.

Und so ist dies eine doch etwas unfaire Konkurrenz gegenüber N.E.R.D., die jeden Track so dermaßen originell auf den Punkt gebracht haben, dass man nur neidisch sein kann. Dass sie darüber hinaus mit Pharell Williams einen charismatischen Sänger und Blickfang haben, der Teile des Publikums schon in Ohnmacht fallen lässt, bevor er auch nur einen Ton von sich gegeben hat, spült sie in eine Liga ganz für sich alleine. HANS NIESWANDT

N.E.R.D.: „Fly Or Die“ (Virgin) Kanye West: „The College Dropout“ (Island/Def Jam)