Der große Blutdurst

Mit schlichten Diagnosen und notorischer Aufgeregtheit reagieren Politik und Medien auf Terroranschläge. Die Balance von Sicherheit und Freiheit ist so aber nicht zu halten

Auf den Sicherheitsstaat eingeschworene Politik handelt nach einemRezept von astrein terroristischer Herkunft

Nach Terroranschlägen wie dem jüngsten in Madrid fällt auf, wie unterschiedlich Bevölkerung und Medien beziehungsweise Politiker darauf reagieren. Noch am Tag der Anschläge demonstrierten abertausende von Spaniern und Ausländern in spanischen, aber auch anderen Städten in stiller Trauer und mit steinernen Gesichtern gegen die anonymen Verbrecher. Politische und journalistische Kommentatoren dagegen redeten sich in Atemnot. Der Pentagon-Berater Richard Pearle und sein Ghostwriter David Frum scheinen hierzulande manchen Autoren die Hand respektive den Kopf zu lenken. Für Pearle/Frum steht fest: „Terrorismus ist das große Böse unserer Zeit, und der Krieg gegen dieses Böse ist die große Aufgabe unserer Generation.“ Sie stellen Amerika und die Welt vor die Alternative „Sieg oder Holocaust.“ Laut Le Monde (21. 3. 2004) ist in der amerikanischen Publizistik bereits vom „vierten Weltkrieg“ nach den ersten beiden und dem Kalten Krieg die Rede.

Mit schlichten Diagnosen warten auch deutsche Leitartikel auf. In historisch schiefer Analogie werden besonnene Reaktionen auf die Anschläge von Madrid der Konzessionsbereitschaft europäischer Staaten gegenüber Hitler (Appeasement-Politik) gleichgestellt. Der Faschismus tritt – zuerst in den USA, jetzt auch hier – als „Islamofaschismus“ auf und wird gleichzeitig historisch eingereiht: „Das Ziel ist nicht die Freiheit, sondern die Unterwerfung, nicht die Erlösung, sondern die Vernichtung – sei’s im Gulag, im KZ oder in der spanischen Eisenbahn.“ Der grobianischen Analyse mangelt es an jeglicher geschichtlicher Substanz und rationaler Proportion. Die propagandistische Formel vom „Krieg gegen den Terrorismus“ wirkt wie eine Nebelgranate und lässt Weltkrieg, Arbeits- und Vernichtungslager aussehen wie einen hinterhältigen Anschlag.

Ein Sozialwissenschaftler sprach vom „Terrorkrieg“, worunter man sich so wenig etwas vorstellen kann wie unter dem „Krieg gegen den Terrorismus“. Terroristen haben keinen Stand- oder Wohnort, den man mit militärischen Mitteln bekämpfen könnte. Sie leben und operieren subversiv. Und ihre verbrecherischen Aktionen gleichen Kriegen nur in einem einzigen Punkt: Es werden Menschen getötet, weniger, weniger effizient, aber doch sehr viele. Eine Armee kann zwar jederzeit terroristisch agieren, aber eine Terrorbande nicht kriegerisch-militärisch. Die Schwierigkeit, Terrorbanden zu bekämpfen, liegt darin, dass diese weder strategisch noch taktisch oder logistisch einen Krieg führen. Insofern ist auch das modische Gerede von „asymmetrischen Kriegen“ nur irreführend.

Vollends ins Abseits führen Spekulationen über die mentale Verfassung von „postheroischen Gesellschaften“, deren zivile Schlaffheit und „moralische Impotenz“ einen Krieg gegen den „Terrorkrieg“ nicht zulasse. Wie soll denn „die Offensive“, die die lauten Trommler des militärischen Heroismus beschwören, geführt werden? Man weiß ja noch nicht einmal, wen man „kampfunfähig“ machen will, kennt aber schon das Ziel: „physische Vernichtung“. Und wo wird vernichtet? In Marokko, wo die Täter vielleicht herkommen, oder in Spanien, wo sie vielleicht untergetaucht sind? Oder in Afghanistan, wo sie vielleicht ausgebildet wurden?

Die notorischen Aufgeregtheiten, die das politische Klima nach Anschlägen prägen, verdecken den zentralen Punkt. Die semantischen Pirouetten über „Terrorkrieg“, „Weltkrieg“ und „Islamofaschismus“ verkennen, dass die Spannung zwischen Sicherheit und Freiheit in demokratischen Rechtsstaaten nicht militärisch und polizeistaatlich aufzulösen ist. Das Risiko, das Demokratie und Rechtsstaat eingehen müssen, besteht genau darin, diese Spannung auszuhalten und nicht eines gegen das andere auszuspielen, das heißt bürgerliche Freiheiten auf Kosten der Sicherheit zu dehnen oder Freiheit zugunsten von Sicherheit zu verstümmeln.

Die Sehnsucht nach dem starken Staat, die Otto Schily (SPD, Berlin) und Günther Beckstein (CSU, München) trotz Restdifferenzen im Detail zwillingsbrüderlich vereinigt, ist politisch extrem gefährlich – für den Rechtsstaat, für die Demokratie und für die Freiheit. Auf Guantánamo und die Menschen- und Bürgerrechtsverletzungen angesprochen, sagte Schily wörtlich, er sehe das „sehr kritisch“ und sage das auch seinen „amerikanischen Partnern“. Aber im gleichen Interview (Süddeutsche Zeitung, 19. 3. 2004) bot er Beckstein einen rechtsstaatlich bedenklichen Kuhhandel an. Man könnte Verdächtige ohne Tatverdacht leichter ausweisen, wenn man Kurzverfahren halbwegs an Gerichten vorbei per Polizei- beziehungsweise Ausländerrecht durchziehen würde. Dafür genügen polizeilich oder geheimdienstlich fabrizierte „Erkenntnisse“, um jemanden über Nacht davonzujagen. Das schwammige Kriterium für solche Erkenntnisse ist der fast beliebig manipulierbare Begriff der Sicherheitsgefahr, zu der jeder werden kann. Im geplatzten NPD-Verfahren haben die vereinigten deutschen Dienste von Bund und Ländern bewiesen, zu welchen winkeladvokatorischen Tricks zu greifen sie bereit sind, um selbst das höchste Gericht über ihre Erkenntnisse an der Nase herumzuführen.

Innere Sicherheit ist seit 1977 und verschärft seit dem 11. September 2001 ein regelrechtes Experimentierfeld für die Ingenieure des Sicherheitsstaates, den Joachim Hirsch bereits 1980 analysiert hat. Im Horizont der Propheten des starken Staates ist längst jeder Bürger zum Sicherheitsrisiko geworden. Sie träumen von Überwachung rund um die Uhr – mit Kameras, Telefonabhörungen, Verwanzung von privaten Wohnungen und anderen geheimdienstlichen Mitteln. Und das sind nur einige der Mittel, mit denen Freiheiten rigoros beschnitten werden, ohne die Sicherheit nennenswert zu erhöhen. Terroristische Anschläge und sicherheitsstaatlich begründeter Abbau von rechtsstaatlichen Garantien und Freiheitsräumen sorgen für eine permanente spiralförmige Bewegung. Aber gesteigerte terroristische Gewalt wird nicht gebannt, wenn man in regelmäßigen Abständen Gesetze verschärft und Rechte beschränkt. Statt mit dem Rasenmäher sollten die Techniker der inneren Sicherheit mit feineren und genauer justierten Geräten arbeiten, um die Sicherheit und die Freiheit zu garantieren.

Völlig ins Abseits führen Spekulationen über die mentale Verfassung von „postheroischen Gesellschaften“

Die auf den Sicherheitsstaat eingeschworene Politik handelt nach einem Rezept von astrein terroristischer Herkunft. Als man auf dem Höhepunkt der Terrorherrschaft 1793/94 dem Ultrarevolutionär Jacques-René Hébert „großen Blutdurst“ vorwarf, weil er „die Guillotine in Permanenz“ forderte, obwohl die Monarchisten geflohen und die Girondisten ermordet waren, antwortete er trocken: „Nach den Löwen und den Tigern … die Insekten.“ Politik, die ständig daran arbeitet, die Sicherheit zu erhöhen und die Kontrolle zu perfektionieren, handelt – auch wenn sie nicht nach Guillotinen ruft – im Geiste derselben bürger- und freiheitsfeindlichen Maxime wie Hébert: Die Feinde werden kleiner und unbedeutender, aber zahlreicher.

RUDOLF WALTHER