robin alexander über Schicksal
: Das Leben ist ein Fluss

Die Jugendweihe hat die DDR überlebt. Ein ethnologischer Bericht

„Krasse Aktion. Ihr seid ja unternehmungslustig. Ruft mich auf jeden Fall an, wenn ihr zurückseid.“ Dies spricht das Funktelefon mit der Stimme meines Freundes Thorsten. Der Empfang ist schlecht, denn meine Freundin und ich sitzen in einem Zug: „Wir fahren nach Osten. Nach Riesa. Wir sind eingeladen zu einer Jugendweihe“, habe ich gerade gesagt. Thorsten, Westler wie ich, scheint den Besuch einer sächsischen Jugendweihe für ein Abenteuer zu halten.

In der Tat hat unsere Reise etwas von einer ethnologischen Expedition. Die Forschungsfrage lautet: Was macht die kultische Handlung Jugendweihe aus? Die Cousine meiner Freundin wurde 1988 geboren, ihr Vater ist Unternehmer, ihre Schwester war schon ein Jahr in den USA. Trotzdem möchte die Cousine zur Jugendweihe gehen. Wie fast ihre ganze Klasse. Wie immer mehr Jugendliche im Osten. Im nächsten Jahr wird der erste Jahrgang Jugendweihe feiern, der im vereinten Deutschland geboren wurde.

Jugendweihe hat etwas mit Osten zu tun. Dort habe ich studiert und meine Freundin kommt von dort. Bei meinen Kollegen gelte ich deshalb als Ostexperte und darf Artikel über die PDS schreiben. Die sächsische Verwandtschaft sieht das anders: „Ah, der Besuch aus dem kapitalistischen Ausland, willkommen, Imperialist!“, scherzen schon auf dem Bahnhof die, die ich bisher für die Ossis meines Vertrauens gehalten hatte. Den spontanen Gedanken, zackig mit „Heil Stalin!“ zurückzugrüßen, verwerfe ich aus taktischen Gründen. Meine Mission hier ist die Beobachtung. Von außen sieht der Saal unspektakulär aus – und von innen auch. Keine roten Fahnen, keine Wimpel, nichts. „Hattest wohl Honecker-Bilder erwartet, was?“, fragt meine Freundin. Wenigstens das Lied vom kleinen Trompeter könnten sie singen, denke ich, aber die „Jugendweihlinge“ kommen zum Song „It’s the final countdown“ in den Saal. Die Vierzehnjährigen stecken zum ersten Mal in ihrem Leben in richtig feinen Klamotten. Die Mädchen sehen aus wie junge Damen. Die Jungen wie Bauern im Frack. 90 Minuten dauert die Jugendweihe, danach habe ich in meinem eingeschmuggelten Forscher-Notizbuch notiert:

Beobachtung 1: Dieses seltsame Ritual hat keinen Sinn.

Beobachtung 2: Das macht überhaupt nichts.

Die Jugendweihlinge schwören weder auf den Sozialismus noch auf den Aufbau Ost. Sie sprechen kein Glaubens- noch sonstiges Bekenntnis, sondern treten einfach einen Schritt nach vorn, wenn ihr Name gerufen wird. Das „regional besondere, individuell ausgetüftelte“ Programm des sächsischen Jugendweiheverbands überfordert niemanden. Junge Mädchen führen einen modernen Tanz vor, noch jüngere Mädchen zeigen dann Kunststücke im Bodenturnen. Zwischendurch werden Rosen und der Bildband „Unsere Welt“ überreicht.

Der Vorsitzende des Wassersportvereins hält eine Ansprache: Das Leben sei ein Fluss. Einmal könne man sich mit der Strömung treiben lassen, ein anderes Mal müsse man gegen den Strom paddeln. Im Übrigen gelte: Ohne Fleiß kein Preis. Nun seien die Jugendweihlinge „in den symbolischen Kreis der Erwachsenen aufgenommen“. Die Cousine bekommt mehr als nur symbolische Geschenke – und strahlt wie ein Kind.

Erst beim Grillen am Abend nimmt das Unheil seinen Lauf. In Form einer Frage an mich: „Bei euch im Westen gibt es doch so seltsame Rituale, die kein Mensch versteht: Ihr müsst doch alles beichten vor der Konfirmation, oder?“ Ich führe kurz aus, das Bußsakrament gehöre in die katholische Kirche, die Konfirmation hingegen zu den Protestanten. Die anschließende Frage einer Freundin der frisch geweihten Cousine, ob Protestanten an Jesus, Katholiken aber an Maria „als Gott“ glaubten, bescheide ich knapp mit „so in etwa richtig“.

Plötzlich stocke ich und werde mir bewusst: Gewohnt, den Ostexperten zu markieren, war aus mir im Handumdrehen ein Fachmann für die katholische Kirche geworden. Eine ungewohnte Rolle. Aber mit überraschenden Ähnlichkeiten: Man versucht Verständnis zu wecken für Phänomene, die man eigentlich selbst für wunderlich hält. Das Publikum nickt verständnisvoll, egal was man berichtet. Liebe ostdeutsche Zeitungsredakteure, bitte zögern Sie nicht, künftig bei mir Texte über Opus Dei oder Johannes Paul II. zu bestellen.

In Riesa erkläre ich dann noch kurz, dass öffentliche Selbstgeißelungen heute in der katholischen Kirche nicht mehr an der Tagesordnung sind und das Riutal der Beschneidung ebenso wie die Witwenverbrennung zu konkurrierenden Religionen gehört. Meine Freundin geht schlafen, als ich mich mit ihrer Mutter auf eine länger Debatte über das Thema Sex vor der Ehe einlasse. Am Montag, zurück in Berlin, rufe ich dann wie versprochen Thorsten an, um über Riesa zu berichten. „Ihr seid schon wieder da? Ihr ward nur für ein Wochenende in Russland?“ Wieso Russland? „Du hast doch gesagt: Ihr fahrt Richtung Osten zur Jugendweihe. Nach Rjasan.“

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