Putzen für eine Villa in Polen

Roman und Anja wollen nicht länger Illegale sein. Sie wissen, dass ihre Zukunft in Brüssel liegt

AUS BRÜSSEL ANETA BACHMANN UND DANIELA WEINGÄRTNER

Am ersten Mai kommen die Polen nicht nach Brüssel. Sie sind schon da. Ania und Roman zum Beispiel. Wir treffen sie Freitagabend im Hof der polnischen katholischen Mission. Gerade geht der Gottesdienst in der kleinen Hinterhofkirche zu Ende, und mehrere hundert Menschen drängen sich durch die schmale Garagenausfahrt nach draußen. Viele ältere Frauen sind darunter. Sie drücken sich an den Jüngeren vorbei, als wollten sie nicht zu viel Raum beanspruchen. Graue Mäntel, graue Mützen, graue Stiefel. Ein Leben ohne Gartenblumen, ohne Großfamiliensonntag, ohne Enkelkinderlachen lässt sich aus den Gesichtern herauslesen.

Roman und Anja sind Anfang dreißig und leben seit einem Jahr ständig hier. Roman hat in Polen eine Ausbildung als Ingenieur gemacht. In Brüssel verdient er sein Geld mit Renovierungsarbeiten. Seine Frau ist ausgebildete Kindergärtnerin und arbeitet bei einer belgischen Familie als Haushaltshilfe. Roman ist gut gekleidet, kräftig und voller Lebensenergie.

Sein zielstrebiger Blick zeigt einen Menschen, der sich mit dem illegalen Migrantendasein nicht abfinden will. Er weiß, dass seine Zukunft in Brüssel liegt. Deshalb möchte er hier eine Renovierungsfirma gründen. Nach dem Gottesdienst ist er im schmalen Vorderhaus der polnischen Mission in den zweiten Stock hinaufgeklettert und steht nun mit seiner Frau geduldig in dem kalten Treppenhaus. Zwei ältere Frauen sind noch vor ihm dran. Dann öffnet sich oben die Wohnungstür und Pater Czaja winkt das Paar herein.

Der mild lächelnde, korpulente, ältere Herr mit den grauen Haaren betreut seit neun Jahren die polnische Gemeinde in Brüssel. Er sieht aus wie der verständnisvolle Dorfpfarrer von nebenan. Der Pater gehört zum Orden von der unbefleckten Maria und trägt eine bodenlange schwarze Soutane. Früher war er in Rom juristischer Berater des Papstes. Jetzt setzt er seinen juristischen Sachverstand ein, um seinen Schäfchen bei der Bewältigung ihres Alltags zu helfen.

Zunächst will er mit Journalisten gar nichts zu tun haben. Ein Artikel, der vor drei Jahren in einer belgischen Zeitung über seine Missionsarbeit erschien, brachte ihm die belgische Polizei ins Haus. „Im Pyjama und mit Handschellen musste er aufs Revier“, erzählt ein junger Mann im Gemeindezentrum. Sie durchsuchten das Pfarrbüro, konnten aber keine Belege dafür finden, dass die Gemeinde Schwarzarbeiter vermittelte. Da durfte Czaja wieder nach Hause.

Er ist überzeugt davon, dass der liebe Gott ihn dazu berufen hat, auf der Erde mit seiner juristischen Finesse den Menschen zu helfen. 80 Prozent seiner Arbeitszeit verwendet er auf Rechtsberatungen. Der Anteil illegaler Schwarzarbeiter sei in seiner Gemeinde minimal, erklärt er den ungläubigen Besuchern. Dann aber plaudert er doch aus dem Nähkästchen: „Ich selber verdiene 1.000 Euro im Monat. Ein fleißige Putzfrau kommt auf das Doppelte. Und ich kenne viele junge Männer, die auf dem Bau und bei der Altbaurenovierung 4.000 Euro jeden Monat verdienen.“

Heute Abend soll er Ania und Roman ein Leumundszeugnis ausstellen. Damit hoffen sie, die belgische Ausländerbehörde milde zu stimmen. „Es ist nicht leicht, sich hier auf dem Markt zu etablieren. Natürlich bekommen wir leichter Aufträge als belgische Handwerker, weil wir schneller und sorgfältiger arbeiten. Wenn wir aber eine Firma gründen wollen, den Kunden auch Rechnungen ausstellen, brauchen wir die Aufenthaltserlaubnis.“

Die beiden wollen sich endlich eine legale Existenz aufbauen. „Wenn einer von uns krank wird, müssen wir den Arzt privat bezahlen. Wir möchten uns endlich bei einer Krankenkasse einschreiben.“ Außerdem macht sich Roman Sorgen um die Zukunft. „Wenn wir mal ein Kind wollen und Ania ins Krankenhaus muss, könnte ich mir das nicht leisten.“

Die polnische Gemeinde in Brüssel wird auf 30.000 Mitglieder geschätzt. Nur jeder Zehnte kommt in die Kirche – doch das sind immer noch genug Menschen, um am Sonntag die Hinterhofkirche der polnischen Mission, die große Kirche in Schaerbeek und die Basilika La Chapelle im Marktviertel bis auf den letzten Platz zu füllen. „Wissen Sie, bis jetzt gibt es bei uns zwei Immigrantengruppen. Die politischen Flüchtlinge, die nach dem Krieg gekommen sind, stammten aus dem Adel und dem Bildungsbürgertum. Sie halten sich für die wahren Polen. Ihre eigenen Landsleute, die in den 90er-Jahren kamen, nennen sie nur die ‚Neger‘ – Schwarze sozusagen, weil sie hier ja schwarzarbeiten.“

Vor fünfzehn Jahren begann die große Einwanderungswelle. Vor zehn Jahren war sie auf ihrem Höhepunkt. Doch als vor drei Jahren die belgischen Behörden allen Illegalen, die schon länger im Land lebten, Aufenthaltspapiere anboten, kamen nur 1.500 Polen zu Pfarrer Czaja, um sich eine Bescheinigung darüber ausstellen zu lassen, dass sie bereits seit über acht Jahren in Belgien ansässig sind. Vor allem die alten Frauen, die als Putzhilfe sieben Tage die Woche schuften, hatten Angst. Sie konnten sich im belgischen Verwaltungslabyrinth nicht zurechtfinden.

„Trotzdem bewundere ich den Mut dieser Frauen“, sagt Czaja. „Sie haben ihr ganzes Leben in einem kleinen Dorf verbracht. Plötzlich müssen sie sich mit den Herausforderungen der Großstadt auseinander setzen. Brüssel ist ganz anders gebaut als die polnischen Städte – nicht in Quadraten, sondern in Dreiecken. Der einzige Bezugspunkt in der Stadt, den sie wiederfinden, ist oft die Mission. Wir zeigen ihnen dann, wie sie von hier aus zum Haus ihrer Arbeitgeber kommen.“

Im Erdgeschossfenster hängt das Programm für die Woche. Rosenkranzbeten am Samstagabend, das Treffen der Anonymen Alkoholiker am Dienstag und Donnerstag. An den anderen Abenden wird Französischunterricht angeboten. Doch die alten Frauen nehmen daran nicht teil. Sie denken nicht an ihre eigene Zukunft, sondern an die Kinder und Enkel in Polen. Statt die Schulbank zu drücken, nehmen sie abends lieber noch eine Putzstelle dazu. Ganze Villenviertel sind am Rande polnischer Dörfer aus den Ersparnissen dieser Frauen gebaut worden.

Krystyna lebt seit fünf Jahren in Brüssel. Sie ist jetzt sechzig – und es ist nicht einfach für sie, Putzstellen zu finden. Ihr Asthma macht ihr zu schaffen. An manchen Tagen schafft sie es in den schmal gebauten, hohen Brüsseler Häusern nicht bis ins oberste Stockwerk. Um sich mit einer belgischen Hausfrau über die Arbeit zu verständigen, würde sie zudem ein paar Wörter flämisch oder französisch gut gebrauchen können. Doch für weniger als acht Euro die Stunde arbeitet sie nicht. Schließlich braucht sie das Geld dringend, um ihrer Familie in Polen zu helfen. Denn ihr Sohn vertrinkt seinen Lohn, und die Schwiegertochter findet in Bialystok keine Arbeit.

Im Pyjama und mit Handschellen musste der polnische Pfarrer aufs Brüsseler Polizeirevier

„Ich muss die Zukunft für meine zwei Enkel sichern. Das machen die dort nicht. Ich muss Computer und eine kleine Wohnung für sie kaufen.“ Für sich selbst gibt Krystyna so gut wie nichts aus. Eine Existenz in der grauen Nische. Um jeden Euro zu sparen, kauft sie fürs Abendessen Katzenfutter. Mit drei anderen Frauen teilt sie sich eine kleine Zweizimmerwohnung ohne Zentralheizung. Den Ölradiator macht sie nur an, wenn das Thermometer unter null fällt.

Ania und Roman geben ihr Geld für sich selber aus. Sie wohnen in der Nähe der katholischen Mission in einer geräumigen 70-Quadratmeter-Wohnung. „Ich bin nun mal in Brüssel – und ich will auch hier leben wie ein Mensch.“ Roman spricht schon fließend französisch, Ania nimmt Unterricht.

Sobald sie etwas Geld gespart haben, werden sie ein altes Haus in Brüssel kaufen und es selbst herrichten. Viele Freunde von ihnen haben das schon so gemacht. „Dazu brauchen wir nicht mal die Aufenthaltsgenehmigung“, erklärt Roman. „Einen Kaufvertrag darf jeder unterschreiben, der bezahlen kann.“ Der erste Mai wird für die beiden ein Tag wie jeder andere. Sie sind maßlos enttäuscht, dass Belgien noch für mindestens zwei Jahre seinen Arbeitsmarkt nach Osten abschottet.

An die große Einwanderungswelle nach der Erweiterung glauben sie genauso wenig wie Pfarrer Czaja. „Wer kommen wollte, ist schon da“, sagt er. Das gilt sogar für die meisten polnischen EU-Beamten, die ihre Eingewöhnungszeit in Brüssel bereits begonnen haben. Dorota ist Mitte zwanzig und hat gleich nach dem Studium ihre erste Stelle in der Generaldirektion Wettbewerb in der Kommission angetreten. Sie wohnt im schicken Teil von Ixelles, wo viele Eurokraten das internationale Flair und die guten Restaurants zu schätzen wissen.

Eine geräumige Stuckwohnung ist für sie genauso selbstverständlich wie ein eigenes Auto und ein Wochenend-Einkaufsbummel in Paris. Der katholischen Mission hat sie noch keinen Besuch abgestattet. Keinen von den neuen EU-Beamten hat Pfarrer Czaja bisher in seiner Kirche gesehen. „Nein, solche feinen Leute kommen nicht zu uns“, sagt er und lächelt sein mildes Dorfpfarrer-Lächeln.