Morde im Grenzland

An der Nordgrenze Mexikos wurden in den letzten elf Jahren hunderte junger Frauen grausam getötet. Die Aufklärungsquote liegt nahe null. Experten vermuten, dass Söhne mächtiger Familien zwischen Drogenmafia und Polit-Establishment dahinter stecken

AUS CIUDAD JUÁREZ ANNE HUFFSCHMID

Die Lichter funkeln in der Nacht, das Auto schnurrt über den Highway, immer geradeaus im samtigen Dunkel. „Ich liebe diese Stadt“, sagt Marisela und schaut über das Lenkrad nach vorne. „Wo sonst kannst du den Sand jeden Tag aufs Neue in Bewegung sehen?“ Doch, sie möchte für immer hier leben. Dann ein prüfender Blick in den Rückspiegel. Sind sie noch da, oder haben wir sie schon abgehängt? Sie bremst ab und wartet, bis der schwarze Wagen wieder auftaucht. Schon ein paar Monate lang wird die Lehrerin Marisela Ortiz verfolgt. Von Bundespolizisten. Darum hatte sie selbst gebeten. Seit vor drei Jahren ihre Lieblingsschülerin Lilia Alejandra ermordet wurde, ist ihre Heimat für sie zur Kampfzone geworden.

Ciudad Juárez, die Monsterstadt? Die ihre Töchter mordet, ihre Jugend im Drogensumpf ersäuft, so steht es in den Zeitungen geschrieben, die Polizisten zu Kriminellen und Politiker zu Komplizen macht. Fast vierhundert junge Frauen starben hier in den letzten elf Jahren einen gewaltsamen Tod. Genauso viele gelten als verschwunden. Juárez, seelenlose Wüstenstadt an der Nordgrenze Mexikos, Nadelöhr zu Gringolandia, das Bilder von hölzernen Kreuzen und weinenden Müttern um die Welt geschickt hat.

Norma Andrade weint nicht. Oder gerade nicht. Denn es passiere ihr ständig, sagt Norma, dass sie „aus heiterem Himmel“ in Tränen ausbricht. Daher haben die Behörden ihr auch „emotionale Instabilität“ bescheinigt und verhindert, dass sie ihre eigenen Enkelkinder Kalep und Jade adoptieren kann. „Das hätte ich mir auch selbst bescheinigen können!“ Ihre Stimme dröhnt, der füllige Leib vibriert. „Instabil“ ist ein hübsches Wort für den Zustand, in den eine Mutter abgleitet, wenn man ihr die siebzehnjährige Tochter erwürgt und verstümmelt zeigt. Eine Woche war Lilia Alejandra wie vom Erdboden verschluckt, dann fand man ihren Körper halb nackt in ein Stück Stoff gewickelt, entsorgt wie Dreck, mit misshandeltem Geschlecht.

„Sie hat mich in den Irrsinn getrieben mit ihrem Dickkopf!“ Immer und überall habe die Tochter Fotos machen müssen. Habe altkluge Reden geschwungen, unaufhörlich glühende Gedichte verfasst und sich über die Schuluniform ereifert. Die erste Liebe und gleich schwanger. Da habe sie es drauf angelegt, sagt Norma, „sie kannte ja alle Verhütungsmethoden“. Das junge Familienglück zerbricht schon nach wenigen Monaten, dennoch gebiert sie kurz darauf noch einen Sohn, Kalep. Der Alltag wird härter, unter der Woche geht Lilia Alejandra auf die Abendschule, am Wochenende in die Fabrik. Als seine Mutter an jenem Abend verschwand, auf dem Heimweg nach Feierabend, war Kalep fünf Monate alt.

„What the hell is going on here?“ Die Empörung ist Donald Labbruzzo noch heute anzuhören. Auf einem brachliegenden Feld vor seiner Fabrik Plasticos Promex, einem grauen Betonquader direkt unter der Stadtautobahn, war der Leichnam von Lilia Alejandra damals abgeladen worden. Wie Gerichtsmediziner feststellten, muss sie nach ihrem Verschwinden noch vier qualvolle Tage lang gelebt haben. Bis dahin hatte der smarte US-Unternehmer der Mordserie wenig Beachtung geschenkt. Zwar war bekannt, dass ein Teil der Mädchen in den Maquiladoras, den rund dreihundert ausländischen Weltmarktfabriken rund um Juárez, gearbeitet hatte. Für einen Bruchteil der US-Löhne – Labbruzzo zahlt achtzig Cent die Stunde – montieren junge Mexikanerinnen in Zwölfstundenschichten Elektrogeräte, nähen Textilien oder stapeln Plastikteile. Doch die Opfer kamen aus einer anderen Welt, arme Mädchen, die wohl leichtsinnig lebten, deren Röcke vielleicht zu kurz waren, die Nächte zu lang. Nun hatte es eine getroffen, die er kannte.

Labbruzzo tat etwas für seine Branche Ungewöhnliches: Er machte den Mund auf. Eine private E-Mail an Unternehmerfreunde stand tags darauf in allen Zeitungen, kurz darauf sitzt der Landesstaatsanwalt in seinem Büro und versichert, dass alles aufgeklärt werde. Danach: nichts. Labbruzzo setzt eine Belohnung aus, 25.000 Dollar. „In den USA kann man die Information ja auf diese Weise kaufen“, sagt er trocken. In Juárez aber habe sich niemand gemeldet. Also ist andernorts „noch mehr Geld im Spiel“. Und Angst. Der Unternehmer hat aufgegeben, über Drohungen gegen seine Familie will er nicht mit der Presse sprechen. Natürlich seien die Killer mit den allmächtigen Drogenkartellen verbandelt. Dass es sich dabei um Söhne reicher Unternehmerfamilien handeln könnte, hält er jedoch für „Bullshit“. Als ob Reichtum in der Anderthalb-Millionen-Einwohner-Stadt ohne jede Berührung mit der Drogenmafia überhaupt möglich wäre.

In Ermangelung von Fakten blühen seit Jahren makabre Spekulationen um Organhandel, Snuff-Pornos oder narkosatanische Riten gut situierter US-Kunden. All die Gerüchte, die dem Morden fast etwas Mythisches verleihen, haben keinerlei Grundlage. Die Reporterin Diana Washington, die den Fall seit vier Jahren für die US-amerikanische Zeitung El Paso Times recherchiert, ist hingegen davon überzeugt, dass es sich um blood sport, eine Art Freizeitvergnügen der Yuppies und mittleren Chargen aus dem weiteren Umkreis der Drogeneliten, handelt. Keine Einzeltäter, eher ein loses Netz aus Banden, Schleppern und uniformierten Helfershelfern, die die Beute an öffentlichen Plätzen aussuchen und heranschaffen. Viele der Ermordeten waren zuletzt in Bars oder auf der Straße, vor bestimmten Computerschulen oder Fabriktoren gesehen worden. „Da wird offenbar ein ganz bestimmter Frauentyp gezielt bestellt“, vermutet der Fotograf Miguel Perea, der seit über zwanzig Jahren Opfer von Gewaltverbrechen in Juárez fotografiert. „Das ist wie bei gestohlenen Autos.“

Bei der Recherche setzt Diana Washington, die seit mehr als zwanzig Jahren über die Drogenszene im Grenzland berichtet, auf ihre engen Kontakte zu mexikanischen Ermittlern und zum FBI. Es ist ja nicht so, dass gar nicht ermittelt worden wäre. Dutzende von Insidern wurden verhaftet und verhört. Doch keinem der immer wiederkehrenden Hinweise auf Männer aus der lokalen High Society und des politischen Establishments, auf ehemalige Polizeifunktionäre, auf einsame Ranchos als Schauplätze der blutigen Zusammenkünfte wurde weiter nachgegangen. „Dabei wissen sie längst, wer die Mörder sind“, glaubt Diana Washington. Ihre Ergebnisse wird sie der Öffentlichkeit demnächst in dem mit Spannung erwarteten Buch „Harvest of Women – A Mexican Safari“ präsentieren (www.juarez women.com).

Als Testlauf hat sie kürzlich die Namen von sechs Verdächtigen lanciert, die der FBI seit längerem im Visier hat, die meisten mit „besten politischen Verbindungen dies- und jenseits der Grenze“. Der Rest sei Sache der Polizei. Theoretisch. Seit einiger Zeit bekommt die Endvierzigerin mit den herben indianischen Zügen, Tochter einer Mexikanerin und eines US-Generals, seltsame Anrufe. Dröhnende Heavy-Metal-Musik, ein Requiem oder das Geräusch einer Kreissäge. Sie habe das zuerst für Zufall gehalten. Bis sie erfuhr, dass ihr mexikanischer Kollege Sergio González Rodriguez, der Ende 2002 in Mexiko ein Aufsehen erregendes Buch zum Fall publiziert hat, dieselben Anrufe bekam.

Noch aber gilt ihre Heimat, El Paso, als eine der sichersten Städte der USA. Ganze drei Morde werden hier pro Jahr angezeigt, in Juárez sind es um die 250. „Auch die Drogenhändler schicken ihre Kinder lieber hier zur Schule“, sagt Alfredo Quijano von der Lokalzeitung El Norte. Eine saubere City mit verspiegelten Fassaden, akkurat gepflanzten Palmen und leer gefegten Bürgersteigen. Einzige Ausnahme ist die lärmige Einkaufsmeile, die direkt auf den Grenzübergang der „Freundschaftsbrücke“ zuläuft. Schaufenster mit Reizwäsche wechseln sich mit Schuhläden ab, Plastikspielzeug mit riesigen Hallen voll Hausrat („Alles für 1 Dollar!“), dazwischen ein Lädchen für „Shooter’s Supply“. Wer hier einkauft, kommt von drüben.

Drüben, auf der anderen Seite des betonierten Flussbetts vom Rio Grande, hört Texas auf und beginnt Chihuahua. Vier Brücken spannen sich über den Fluss, der die ungleichen Zwillingsstädte trennt und den die Mexikaner Rio Bravo nennen. Vierzig Millionen Mal im Jahr laufen die Menschen über die rundherum umzäunten Brückenbogen, in deren Mitte die Fahnen einfach die Farben wechseln. Der einzige Unterschied: Gen Norden bilden sich, vor allem seit dem 11. 9., immer längere Schlangen vor den Passkontrollen. Auf dem Rückweg will keiner mehr die Pässe sehen.

Als „twilight zone“ hat ein US-Kriminologe Juárez einmal bezeichnet, als Ort, wo nichts unmöglich und alles käuflich zu sein scheint. „Willkommen in der Stadt der Geschäfte“ werden Reisende von einem großen Schild am Flughafen empfangen. Wen es hierher verschlägt, in diese unwirtliche Häuser- und Straßenansammlung mit den breiten Avenidas und den unförmigen Kästen am Straßenrand, mit der staubigen Sonne, ohne jedes Grün, ist auf der Suche. Nach Arbeit, wie all jene, die sich am wuchernden Westrand ihre Baracken bauen.Wer sein Glück nicht im Norden sucht, mit oder ohne Papiere, bricht jeden Morgen in den geschäftigen Ostteil auf, zu den Häusern und Clubs der Reicheren, und zur Maquila – für viele Frauen, trotz der miesen Bezahlung, noch immer Traumfabrik.

Umgekehrt machen sich Besucher aus El Paso hier schon seit der Prohibition auf die Suche nach dem verbotenen Kick im Süden. Direkt hinter der „Freundschaftsbrücke“ stehen ihnen die Tore der glitzernden Bars und Nightclubs weit offen, das Blue Agave, Tequila Derby oder die Yankees’ Bar. Kleine Trauben von US-Teens scharen sich um die Eingänge, trotz der frostigen Temperaturen sind die Mädchen bauch- und schulterfrei gekleidet, wild entschlossen zum ach so verruchten Vergnügen. Englisches Geschnatter mischt sich mit den wummernden Bässen, die aus den Türen quellen. Sex und Schnaps sind billig zu haben, und über tausend Picaderos, Stechorte, sollen es sein, an denen die heiß begehrten Pillen und Pülverchen vertrieben werden.

Still ist es auf dem Stück Brachland, das sich vor den Industrieparks erstreckt. Sand und Geröll und struppige Büsche, aus der Ferne ist nur das Brummen der Schnellstraße zu hören. Hier stehen die berühmten acht rosafarbenen Kreuze, als Markierung für den bislang größten Leichenfund. Schon oft auf Fotos gesehen, doch erst die Nähe macht schaudern: die kleinen, roten Blumengebinde, die an jedem Kreuz befestigt sind. Die sorgsam in Schnörkelschrift aufgemalten Namen, Claudia Ivette, Lupita und Esmeralda, Brenda und Barbara, Laura Berenice und Veronica und eine „Unbekannte“. Der staubige Wind, der über alles hinwegbläst. Ringsherum sind Plastikblumen verstreut, viele davon wurden in Richtung eines kleines Abhangs geweht. „Fast so, als ob die Blumen wüssten“, sagt Miguel Perea lakonisch. In dem trockenem Flussbett hatte ein Maurer am 6. November 2001 durch Zufall die Gebeine des ersten Leichnams gefunden. Man suchte weiter und fand, nur notdürftig im Gestrüpp verscharrt, die Reste von sieben weiteren Frauenleichen.

Auch hier wurde, wie in allen anderen Fällen, die Spuren- und Tatortsicherung verschleppt. Fundstellen wurden nicht korrekt markiert, einzelne Beweisstücke wie verstreute Schuhe, Plastikfolien und Haarbüschel gar nicht erst aufgenommen, Zeugenaussagen wurden ignoriert. „Viele Beweise sind so für immer verloren gegangen“, sagt der Forensiker und Kriminologe Oscar Maynez, der in jenem November die Untersuchungen leitete. „Kaum hatten wir angefangen, mussten wir schon wieder aufhören“. Die Order von oben: Die Fälle sollten schleunigst abgeschlossen, Schuldige sollten gefunden werden. Drei Tage später saßen zwei Busfahrer im Knast, die ein „umfassendes Geständnis“ abgelegt hatten. Der Haken dabei: Dem Schuldbekenntnis waren nachweislich Folterungen vorausgegangen. Und die DNA-Analysen lieferten keinerlei Hinweise auf die Täterschaft. Maynez kündigte.

Die beiden Busfahrer wurden nie aus der Haft entlassen. Einer starb bei einer mysteriösen Operation, für den anderen sieht sein Anwalt Sergio Dante Almaraz „nicht die geringste Chance“. Der stattliche Fünfzigjährige empfängt den Besuch in seiner kleinen Kanzlei am Stadtrand, im römischen Stil mit pseudoantiken Säulen, an der Wand ein altes Foto von Zapata. Die Mädchen, glaubt der Anwalt, seien womöglich eine Art Prämie für besondere Verdienste. Er nennt einen Namen. „Veröffentlicht den nicht, das wäre mein Tod.“ Das klingt nach Gehabe, Wichtigtuerei. Doch sein junger Kollege Mario Escobedo, der ihm in dem Fall zur Seite stand, wurde tatsächlich erschossen. Im Februar 2002, auf offener Straße und am hellichten Tag, von Polizisten. Man habe ihn mit einem Drogenboss verwechselt, lautet die offizielle Begründung, zudem hätte Escobedo das Feuer auf die Polizei eröffnet. Zu dumm, dass sich der Fotograf Perea am Schauplatz aufhielt. Auf seinen ersten Fotos ist das Polizeifahrzeug noch unversehrt. Als der Wagen wenig später der Presse präsentiert wird, sind Einschusslöcher zu sehen. Die verantwortlichen Polizisten werden nach kurzer Haft entlassen, nach Recherchen von El Norte arbeiten sie heute bei den Justizbehörden in Mexiko-Stadt. Miguel Perea hat für sein Foto einen Journalistenpreis bekommen. Der Gouverneur von Chihuahua, Patricio Martínez, habe ihn persönlich beglückwünscht und dabei „freundlich angelächelt“, erinnert sich Perea.

Dass dem Landesvater nicht zu trauen ist, darüber sind sich die fast zwanzig Frauen- und Menschenrechtsgruppen in Cuidad noch einig. Ansonsten ziehen sie längst nicht mehr an einem Strang. Star und Veteranin der Szene ist Esther Chávez, eine vornehme Siebzigjährige, die als eine der Ersten die Mädchenmorde anprangerte. Vor ein paar Jahren gründete die Doyenne der lokalen Frauenbewegung mit den Spendengeldern eines CNN-Reporters Casa Amgia, Anlaufstelle und Therapiezentrum für „alle Arten von Gewaltopfern“, wie Chávez betont. Den Schwerpunkt ihrer Arbeit legt sie auf häusliche Gewalt und kulturell bedingten Machismo. Nichts weniger als „eine Kulturrevolution“ brauche es in Juárez, sagt Esther Chávez. Und lächelt dabei recht zuversichtlich.

Den innerfamiliäre Sichtweise hält die Mütterorganisation „Nuestras Hijas de Regreso a Casa“ (Unsere Töchter zurück nach Hause), zu der Marisela und Norma gehören, für fatal. Schließlich gehe es nicht um Alltagsgewalt von Ehemännern oder Brüdern. Sondern darum, sagt Marisela Ortiz, dass „unsere Mädchen auf der Straße von Wildfremden entführt wurden und dem Vergnügen mächtiger Männer dienen mussten.“ Tatsächlich sind Familienangehörige der mittellosen Opfer allemal leichter zu verdächtigen als Mitglieder einflussreicher Familien.

Symptomatisch für die Spaltung war dieses Jahr der so genannte V-Day. Auf Initiative der Theaterregisseurin Eve Ensler („Die Vagina-Monologe“) hatten Frauengruppen und Filmstars wie Sally Field, Jane Fonda und Salma Hayek am Valentinstag für ein grenzüberschreitendes Festival im Zeichen des V geworben – V wie violencia, Gewalt, aber auch wie victoria, Sieg, und natürlich wie vagina. „Was denn für Siege?“, fragt Marisela Ortiz. Und das weibliche Geschlechtsorgan zu zelebrieren, hält sie angesichts der sexuellen Misshandlungen für reinen Hohn. „Ein Zirkus“, meint auch Norma Andrade verächtlich. Zudem sei sie an diesem Tag „kaum in der Stimmung, auf der Straße zu tanzen“. Ihre Tochter war am 14. Februar verschwunden. Es heißt, sie sei das Valentinsgeschenk für einen der Clanbosse gewesen.

Dass Nuestras Hijas so viel Wirbel machen konnte, ist vor allem Norma Andrade zu verdanken. Die wuchtige Frau ist über Zäune geklettert, hat sich vorgedrängelt, ihren gewaltigen Körper den Leibwachen entgegengestemmt. Schließlich hat sie letzten Herbst der Gruppe einen Termin beim Präsidenten erkämpft und sein Versprechen, die Dinge voranzubringen. Die Ermordung von Lilia Alejandra kommt womöglich vor den Interamerikanischen Gerichtshof. Das Innenministerium hat ein paar Hundertschaften Bundespolizei in die Stadt geschickt. Und der Präsident hat eine Sonderbeauftragte ernannt.

Guadalupe Morfin ist eine elegante Frau, in dunkelbraunem Kostüm und mit Perlen im Ohr. „Überzeugungsarbeit“ will sie leisten, jedes ihrer Worte ist sorgsam abgewogen. Seit vergangenem November ist die renommierte Menschenrechtsanwältin offiziell für „die Prävention und Eliminierung der Gewalt gegen Frauen in Ciudad Juarez“ zuständig. Am Goodwill der Juristin zweifelt kaum jemand. Unklar ist jedoch, wen genau sie wovon überzeugen will. Und kann. „Die Gute hat ja nichts als ihr Flugticket in der Hand“, kommentiert Dante Almaraz die Ernennung. Tatsächlich verfügt die Sonderbeauftragte über kein festes Budget, kein eigenes Büro in Juárez und arbeitet mit einem gerade mal achtzehnköpfigen Team. Akteneinsicht wurde ihr bisher nicht gewährt. Die Enttäuschung scheint vorprogrammiert. „Wir werden nicht allen Müttern zufrieden stellende Aufklärung verschaffen können“, meint Morfin vorsorglich. Die meisten Familien sind längst fortgezogen, nur noch dreißig sind heute aktiv. Denen will sie vorerst wenigstens „symbolische Entschädigung“ bieten, etwa die Benennung von Straßen und Plätzen nach den ermordeten Mädchen. Dagegen sei nichts einzuwenden, sagen die Mütter von Nuestras Hijas. Ein Ersatz für die Namen und die Bestrafung der Mörder können neue Straßenschilder jedoch kaum sein.

Jetzt oder nie, hatte Diana Washington zum Abschied noch gesagt. Die Konjunktur sei günstig, die internationalen Medien seien alarmiert, die jüngsten Massengräber – ein Dutzend Männer, von Landespolizisten gefoltert und getötet, waren Mitte Januar ausgebuddelt worden – haben ein grelles Schlaglicht auf den Polizei- und Drogenfilz geworfen. Doch da gebe es noch dieses Foto. Sie kramt im Kofferraum ihres Autos. Nein, keine Geheimdokumente, ein populärer Politbestseller. Darin ist eine Aufnahme zu sehen, ganz unschuldig, ein Ferienbild der Präsidentenfamilie mit einem befreundeten Unternehmer. Ein weiterer Mann steht hinter einer Schaukel. Das, sagt die Reporterin, ist einer der Namen. Und klappt das Buch zu. Sie lächelt nicht.

ANNE HUFFSCHMID, 39, Journalistin und Kulturwissenschaftlerin, lebt nach elf Jahren in Mexiko-Stadt wieder in Berlin