Die Liebhaberin

„Wir sprachen Vietnamesisch; wir zogen nie Schuhe an, wir lebten halb nackt, wir badeten im Fluss“: Eine Reise nach Vietnam auf den Spuren Marguerite Duras’, die morgen 90 Jahre alt geworden wäre

VON JÜRGEN BERGER

Die Straße von Vinh Long nach Sa Dec streckt sich knapp zwanzig Kilometer. Sie ist stark befahren und nicht ungefährlich. Sa Dec liegt abseits touristischer Routen. In Saigon, dem heutigen Ho-Chi-Minh-Stadt, kann man lediglich eine Fahrt in die größere Provinzstadt Vinh Long buchen. Hier ist es dann am einfachsten, Mopeds mit Fahrern zu organisieren. Also geht es die letzten Kilometer auf dem Sozius einer Honda weiter, bis man in der kleinen Provinzstadt im Mekongdelta etwa siebzig Kilometer südlich von Saigon ankommt. In Sa Dec hat Marguerite Duras einen großen Teil ihrer Kindheit und Jugend verbracht. Die Mutter war Lehrerin an der Grundschule. In der Flusslandschaft rund um die Stadt erlebte Duras mit ihren Brüdern, was sie später einmal so beschreiben sollte: „Wir sprachen Vietnamesisch wie die kleinen Vietnamesen; wir zogen nie Schuhe an, wir lebten halb nackt, wir badeten im Fluss. Mein Baccalaureat hab ich mit Vietnamesisch bestanden. Eines Tages habe ich dann gelernt, dass ich Französin sei. Man zwang mich, Beefsteaks zu essen, ich erbrach die Beefsteaks.“

Die Menschen, Landschaften, Gerüche und Mentalitäten des Mekongdelta sollten sich im erzählerischen Werk von Duras zu Motiven, Temperierungen und Satzmelodien verdichten. Das Delta ist schon in ihrem frühen Roman „Heiße Küste“ (1950) allgegenwärtig. Einem breiten Publikum bekannt werden die Orte der jungen Marguerite allerdings erst, als Duras im Alter von siebzig Jahren mit „Der Liebhaber“ (1984) ihre intimste Geschichte aus Indochina vorlegt. Die Affäre mit einem reichen chinesischen Geschäftsmann, von Jean Jacques Annaud 1991 verfilmt, beruht auf einer tatsächlichen Beziehung des Mädchens im Alter von fünfzehn Jahren. Das Haus der chinesischen Kaufmannsfamilie soll es heute noch geben. Und auch die Grundschule, in der die Mutter vietnamesische Kinder in Französisch unterrichtete, soll noch erhalten sein. Wo die Gebäude zu finden sind, verraten Reiseführer allerdings nicht. Tröstlich ist, dass der Agent in Vinh Long genau zu wissen meint, worum es geht. Den Mopedfahrern, die uns nach Sa Dec transportieren sollen, hat er alles detailliert notiert. Die beiden Männer studieren den Zettel angestrengt und wirken, als wüssten auch sie genau Bescheid. Dann geht es los in Richtung Sa Dec, das linke Bein möglichst nahe an die Honda gepresst, auf dass die Kniescheibe nicht Opfer des Gegenverkehrs werde.

Bei Vinh Long verzweigt sich der Mekong in zwei Hauptarme, um sich später in neun Flüssen als neunköpfiger Drache ins Südchinesische Meer zu ergießen. Abseits der Straße wirkt die Landschaft auch heute noch ländlich still. Reist man die kurze Strecke flussaufwärts, ist nachvollziehbar, warum Marguerite Duras in ihren großen Romanen „Die Verzückung der Lol V. Stein“ (1964) und „Der Vize-Konsul“ (1965) den Leser durch ganz Asien führt, eine Bettlerin mit einem Kinderbündel immer am großen Fluss entlang wandern lässt, den Verlauf des Mekong durch Kambodscha, Laos und China nachvollzieht, atmosphärisch aber immer im Delta weilt. Hier liegen die Gründe ihrer angenehm schläfrig wirkenden Erzählsprache und der hybriden Durchlässigkeit ihrer Romanfiguren, die in passiver Hingabe zu versinken scheinen. Der Erzählton formt sich in der Zeit, in der sie mit der Mutter und den Brüdern in einem Kolonialhaus hinter der Schule von Sa Dec wohnt.

Mit fünfzehn ist allerdings Schluss mit schläfrig. Sie muss ins Lycée Chasseloup-Loubat nach Saigon und lebt unter der Woche in der kleinen Pension der Mademoiselle C., die das junge Mädchen laut Duras-Biografin Laure Adler zu schwülstig-zweideutigen Sitzungen zwingt. Auf ihrem Weg von Sa Dec nach Saigon legt die junge Marguerite jene Route zurück, die man auch heute zurücklegt und die in Annauds „Liebhaber“-Verfilmung beginnt, als er seine Protagonistin in Sa Dec in einen Bus steigen lässt. Dann überquert das Mädchen den Mekong und passiert jene Provinzstadt, die für Duras einer älteren Frau wegen zum wichtigsten literarischen Bezugspunkt Indochinas werden sollte. In Vinh Long lebte Elizabeth Striedter, von Duras in der Figur der Anne Marie Stretter dargestellt.

Die Gattin des Provinzverwalters beeindruckte die junge Duras derart, dass sie zur prägenden Frauenfigur der Romane werden sollte. „Seit Jahren sind meine Filme und meine Bücher Liebesgeschichten mit ihr“, gestand sie im Alter von 63 Jahren. Und: „Kurz nach ihrer Ankunft hörte man, dass ein junger Mann sich aus Liebe zu ihr umgebracht habe. Sie war für mich lange Zeit die Inkarnation einer doppelten Macht, einer Macht des Todes und einer Macht der Alltäglichkeit. Manchmal meine ich, ihretwegen habe ich geschrieben.“

Saigon und das Delta tauchen in Duras’ Romanen auf vielfältige Art und Weise auf. Als sie und ihre Brüder älter wurden, habe die Mutter als Klavierspielerin im Kino „Eden“ in Saigon dazuverdient, schreibt Duras in „Heiße Küste“. Das Kino gibt es heute noch. Es ist leicht zu finden und liegt im Zentrum Saigons in Nähe der Oper. Filme werden hier nicht mehr gezeigt. Das Gebäude wirkt eher wie eine Passage, die auf Investoren wartet.

Die Suche in Sa Dec dagegen gestaltet sich kompliziert. Son und Minh, unsere beiden Begleiter, sprechen weder Englisch noch Französisch. Es muss ihnen recht merkwürdig erscheinen, dass zwei Europäer an einem heißen Nachmittag hier in Sa Dec etwas suchen, das es gar nicht mehr gibt. In der kleinen Stadt geht es gemütlich zu. Auf der Suche nach der Grundschule und dem Haus der chinesischen Kaufmannsfamilie fahren wir über die Brücke und einen Seitenarm des Mekong. Hier stehen schöne Kolonialbauten neben Häusern, die wie ein Filmset aus der Zeit wirken, da chinesische Händlerfamilien ihre Landhäuser hier bauen ließen. Eines der Gebäude thront einsam über den anderen: Es könnte das Haus der chinesischen Kaufmannsfamilie gewesen sein, deren jüngster Spross sich irgendwann im Jahr 1929 der jungen Marguerite näherte. Die reife Duras verwischte Spuren und deutete erzählend um. Die Liebesgeschichte mit dem doppelt so alten Mann allerdings taucht in ihren Romanen immer wieder auf, bis sie als Siebzigjährige endlich wagt, ihn zu benennen: den Chinesen mit dem glatten, femininen Körper, dessen Liaison mit der jungen Europäerin ein Skandal war.

Duras-Biografin Laure Adler berichtet, dass das ehemalige chinesische Patrizierhaus inzwischen zu einer Polizeiwache umfunktioniert worden sei. Tatsächlich begegnen uns einige blasierte Funktionäre und komplimentieren uns rüde wieder hinaus. Minh und Son lassen sich davon nicht beeindrucken und tragen weiterhin eine stoische Miene zur Schau. Was zählt, ist der Auftrag. Dann geht es wieder zurück über die Brücke und entlang der Uferpromenade auf der anderen Seite des Flusses – bis plötzlich an einer Kreuzung eine Schule auftaucht. Errichtet in den Achtzigerjahren, wirkt das Gebäude aber so sozialistisch zweckrational, dass man es in eine Rostocker Plattenbausiedlung verpflanzen könnte.

Direkt gegenüber dagegen steht ein Gebäude, das luftig gebaut ist und von einer für Kolonialbauten typischen Kolonnade gesäumt wird. Drinnen büffeln vietnamesische Kinder. Plötzlich kommt aus einem der Klassenzimmer eine junge Lehrerin, die sofort zu wissen scheint, was europäische Gäste an einem heißen Tag wie diesem hier suchen könnten. Ja, das sei tatsächlich die Schule, an der die Mutter von Marguerite Duras unterrichtet habe, sagt sie strahlend und in lupenreinem Französisch. Dann unterbricht sie den Unterricht und holt aus dem Hauptgebäude Alben mit Originaldokumenten und Bildern, die das Mädchen und die Familie in der Zeit um 1930 zeigen. Ihre zwölfjährigen Schülerinnen nutzen die Unterbrechung zu einer improvisierten französischen Konversation mit den Gästen. Dabei sitzen sie in robusten Holzbänken, die die Zeiten überdauert haben. Zum Abschied singen sie „Au claire de la lune“. Dann spricht die Lehrerin noch eindringlich mit Minh und Son, deren Mienen sich zusehends aufhellen. Endlich wissen sie, warum sie seit Stunden etwas suchen, das es nun doch gibt. Eigentlich könnte es jetzt wieder zurück nach Vinh Long gehen, wäre da nicht der kleine Tempel, von dem Anh Hong, so heißt die Lehrerin, berichtet. Den dürften wir auf keinen Fall versäumen. Er stehe direkt auf der anderen Seite der Kreuzung, dort könne man sich den Hausaltar der chinesischen Kaufmannsfamilie ansehen. Um diese Zeit werde man auf jeden Fall eingelassen.

Auch der Tempel hat die Zeiten überdauert und liegt in einem gepflegten kleinen Garten. Drinnen arbeiten Novizen an einem Tisch. Im Gebetsraum steht ein großer Altar und an der Wand ein kleiner Familienschrein für die Ahnen. Eine Schale mit Reis. Eine mit Obst. Und dort, dieses Bild, sagt die Frau, die die Gäste hereingelassen hat, das sei der chinesische Kaufmannssohn in jungen Jahren. Sollte er es tatsächlich sein, entspricht er dem Bild, das man sich während der „Liebhaber“-Lektüre von ihm gemacht hat. Die Gesichtszüge sind zart, der Blick abwesend.

Geschrieben hat Marguerite Duras ihren späten Roman in weniger als drei Monaten, und zwar nachdem ihr verloren geglaubte Schulhefte und Familienfotografien wieder in die Hände gefallen waren. Zuerst heißt der Liebhaber noch Leo, wirkt linkisch und hat keine zarte Haut. Schnell allerdings nimmt er als literarische Figur endgültige Formen an. Nach Erscheinen des Romans werden innerhalb von drei Monaten 450.000 Exemplare verkauft. Duras selbst empfindet das als Anerkennung, nicht als Bestätigung. Die hätte sie gern für „Die Verzückung der Lol V. Stein“ und „Der Vize-Konsul“ gehabt, die sie ebenfalls innerhalb kurzer Zeit kurz vor ihrem fünfzigsten Geburtstag schrieb. Die „Verzückung“ ist ihr riskantester Text. Lol V. Stein, die Hauptfigur, erlebt passiv, wie ihr der Verlobte geraubt wird, und wirkt ab da wie losgelöst von der Welt, ohne dass sie je Opfer wäre. Eigentlich arbeitet Marguerite Duras in dieser Zeit am „Vize-Konsul“ und der Aufarbeitung ihrer Erinnerung an Elizabeth Striedter. Sie kommt nicht weiter, löst die Figur der Lol V. heraus und schreibt mit „Verzückung“ einen eigenen Roman.

Dann fährt sie nach Venedig und dank dem Fäulnisgeruch in der Stadt ist der Mekong plötzlich wieder präsent. Ansiedeln wird sie die Geschichte der außergewöhnlichen Frau, die sie in „Vize-Konsul“ erzählt, in Kalkutta. Den Stoff dazu nimmt sie aus ihrer Jugend in Sa Dec und Vinh Long. Marguerite Duras war zeitlebens ein Mädchen der Kolonien. Gestorben ist sie am 3. März in Paris kurz vor ihrem 82. Geburtstag. Geboren wurde sie am 4. April in Gia Dinh, einem Vorort Saigons.