Dicke Backen

So gut, wie von den Herren in ihren verbeulten Anzügen sind viele Hipster noch nie gerockt worden: Die „Fanfare Ciocarlia“ spielt heute in der Fabrik

von Volker Peschel

Man sagt, das kleine rumänische Dorf Zece Prajini, zu deutsch „zehn Felder“, sei so klein und unbedeutend, dass selbst der Zug, der zweimal täglich diesen südöstlichen Zipfel des Landes durchkreuzt, hier nicht hält.

Jedoch könne man schlicht im richtigen Moment abspringen. 400 Einwohner hat das Nest nahe der Grenze zu Moldawien, eine bitterarme Gegend mit Lehmhütten und wenig Arbeit.

Zwei musikbegeisterte Deutsche, die Mittdreißiger Helmut Neumann und Henry Ernst von Asphalt Tango, bereisten vor einigen Jahren diese abgelegene Region mit einer Idee: Die putzmuntere, äußerst tanzbare Musik auf deutsche Bühnen zu bringen. Unklar, ob auch sie dafür vom Zug abgesprungen sind, jedoch brachten sie den ehrwürdigen Musiker Ion Ivancea dazu, die besten Musiker aus Zece Prajini um sich zu sammeln. Die Fanfare Ciocarlia war geboren – die „Lerchenbläser“.

Ein irreleitender Name für eine schlicht laute Truppe. Denn nur zu gerne prahlt der Stamm der Usarii damit, die wildeste, hemmungsloseste Variante der traditionellen Blasmusik herauszuposaunen. „Wir sind die Schnellsten!“, wissen die drei Generationen von Musikern der Fanfare Ciocarlia. Tubas pumpen im Offbeat wie dumpfe Nebelhörner, Klarinetten fiedeln aberwitzig schnell, ein Saxophon kräht darüber wie ein Hahn, zwei Trommler stampfen ein rhythmisches Fundament zusammen. 30 Stunden lang könne man diese Musik so spielen, wenn man denn nur zu Feiern verstünde, erklären die Backen-Schwerstarbeiter. Ska oder Punk müssen wohl die Verwandten dieser Geradeaus-Polka sein. Eskalation und Raserei mit 200 beats per minute, aber doch Balsam für die Seele, denn etwas Tragikomisches schwebt stets über ihren Liedern sowie eine verhaltene Versöhnung mit dem Leben.

Gute Zeiten sind es für die furiosen Zwölf aus dem fernen Dorf, denn ihr anarchischer Spielspaß trifft den Nerv tanzwütiger Großstädter. Durstig sind die Verwöhnten der Westmetropolen nach neuen Herausforderungen für Gehör und Beine. Andere Regionen sind bereits abgegrast und langweilen das hippe Publikum. Das Buena Vista-Kuba hat ausgedient, zu durchgedudelt sind auch all die Latino- und Orient-Klänge unzähliger Sampler.

Bleibt der unentdeckte Osten Europas für den Weltmusikhunger lässiger Partygänger, die erfahren müssen, dass sie so gut wie von solchen Herren in verbeulten Anzügen noch nie gerockt wurden. Vor allem der DJ und Musikproduzent Shantel hat mit seinem „Bucovina Club“ im Schauspielhaus Frankfurt diesen ergiebigen Acker bestellt, als er die Musik aus der Heimat seiner Eltern unter elektronische Dub-Bässe legte. Die Meute tobt noch immer.

Auch allerlei prominente Gesellen laben sich an der wilden, ursprünglichen Musik. Johnny Depp lässt auf seinen Partys Balkan-Kapellen spielen, Modemacher Yamamoto unterlegt seine Schauen mit Blasmusik, der Filmregisseur Emir Kusturica tut dies schon lange in Filmen wie „Schwarze Katze, weißer Kater“. Und Berlinale-Gewinner Fatih Akin zeigt in „Gegen die Wand“ Szenen des letzten Auftrittes der Fanfare Ciocarlia in der Fabrik. Ein Dokufilm von Ralf Marschalleck läuft bald im Fernsehen (arte, 12.4., 22.30 Uhr).

Neben dieser Trockenübung bleibt natürlich der heutige Auftritt in der Fabrik. Hüpfen, springen, harten Schnaps trinken – die rasanteste, furioseste Brassband der Welt im Neunachteltakt.