nachgereist
: Ökumenische Wohngemeinschaften

Scherf auf Kirchentag in Berlin

„Henning!“ Der Bundestagspräsident versucht es noch einmal etwas energischer. „Henning!“

Henning Scherf sieht und hört Wolfgang Thierse nicht. Der Wahlsieger von Bremen ist umringt von Menschen mit roten, gelben oder lilafarbenen Tüchern um den Hals, auf denen „Ökumenischer Kirchentag 2003“ steht. Sie drücken ihm Zettel in die Hand, schütteln selbige oder lassen sich ihr Programmheft signieren. Eine leichte Übung für den Bad-in-der-Menge-Profi.

Zuvor hat er auf dem Berliner Kirchentag Auskunft über seinen Glauben gegeben. 2.600 Menschen passen in die Messehalle 12, und als die Moderatorin Henning Scherf am Donnerstagnachmittag als „strahlenden Wahlsieger“ ankündigt, sind nur noch wenige der Sitzgelegenheiten aus Pappe frei. Die Veranstaltung steht unter dem Titel „Was hast Du, was ich nicht habe?“ – es geht um die Annäherung von Katholiken und Protestanten. Henning Scherf gegenüber sitzt Annette Schavan, die katholische Kultusministerin des noch katholischeren Baden-Württemberg.

Scherf berichtet, er sei „militant protestantisch“ erzogen worden. Drei totalitäre Systeme gebe es, habe es in seiner Familie geheißen: „Die Nazis, die Stalinisten und die römisch-katholische Kirche.“ Er habe die Katholiken jedoch immer um ihre Mystik beneidet.

Er erzählt von seiner „ökumenischen Wohngemeinschaft“ in Bremen, vom Zusammenleben mit einem katholischen Pfarrer, einem Jesuiten, einem Muslim und gar einem Verwandten des Kardinal Frings – „und die gehören in Köln zum katholischen Adel“.

Dann ist Pause, es gibt Gospelmusik. Der Chor kommt aus Pinneberg und seine Sängerinnen und Sänger sehen nicht sehr gospelig aus. Das ist ein Glück für Scherf und Shavan. Die beiden werden von den Programmgestaltern zu aktiver Teilnahme genötigt und reihen sich tapfer ein. Scherf erledigt seine Sache – beidhändig schnippend – souverän, etwas steif wirkt das Ganze dennoch. Bei „Down by the river side“ kann er sogar mitsingen. Richtig wohl scheint er sich nicht zu fühlen, vielleicht ist er nach den Feierlichkeiten der letzten Tage auch einfach müde.

Scherf erzählt von seiner ökumenischen Gemeinde mit gemeinsamem Abendmahl. Das kommt bei den Zuhörern natürlich an und im Stile eines Wahlkämpfers legt er noch ein paar Parolen drauf: Mit Kopfschütteln habe er Kardinal Ratzingers Ablehnung eines gemeinsamen Abendmahls von Protestanten und Katholiken aufgenommen. „Wir gehen aufeinander zu, dann kommt einer und bremst uns aus.“ Oder: „Wir brauchen Praxis, wir müssen miteinander leben.“ Oder: „Wir müssen zurück zur Urkirche, für die die ersten Christen den Löwen zum Fraß vorgeworfen wurden.“ Tosender Applaus.

Nach eineinviertel Stunden sollen sich die Podiumsgäste noch einmal zu den Pinnebergern gesellen. Schavan verzichtet auf eine weitere musikalische Einlage, Scherf stampft zu den Gospelklängen wie verlangt mit den Füßen. Einen Song lang, das muss reichen.

Bevor er die Halle verlassen hat, hat ihn Wolfgang Thierse dann übrigens doch noch im Gewühl erwischt.

Daniel Schalz