Vormodernes Regieren

In den letzten Jahren behauptete Kanzler Schröder zwar immer, Deutschland handle multilateral. Seine Rhetorik und seine Taten offenbaren jedoch eine andere Realität

Der Multilateralismus ist ein wichtiger Ausweis modernen staatlichen Regierens

In Berlin wird heute der Bundeskanzler das erste Symposium der neuen „Hertie School of Governance“ zur Rolle des Staates im 21. Jahrhundert eröffnen. Diese private Hochschule ist das ambitionierteste Projekt einer „Public Policy“-Ausbildung nach amerikanischem Muster, das jemals in Deutschland gestartet wurde. Selbst wenn sich die hoch gegriffenen Ziele („deutsches Harvard“) nur teilweise und allenfalls mittelfristig realisieren lassen werden – die Voraussetzungen für eine erfolgreiche postgraduierte Ausbildung stehen durchaus günstig.

Wie notwendig der Erfolg dieses Projekts ist, lässt sich nirgends besser demonstrieren als an der Außenpolitik der gegenwärtigen Bundesregierung. Erinnert man sich noch an die anfängliche Rhetorik von Rot-Grün, könnte man fast glauben, die „Hertie School“ sei nur ein Spätausläufer des „Dritten Weges“, der nach einer zeitaufwändigeren Umleitung gerade noch rechtzeitig zur neuen „Innovationsagenda“ („Brain up!“) stößt.

Denn: Als Gerhard Schröder im Sommer 2000 zum Gipfeltreffen über „Modernes Regieren im 21. Jahrhundert“ nach Berlin lud, versprach er zusammen mit vierzehn anderen Staats- und Regierungschefs „progressives Handeln“: „Chancen für alle, Verantwortung seitens aller und Gemeinschaft mit allen. Wir praktizieren neue Methoden modernen Regierens“, hieß es im Kommuniqué. Und das galt natürlich auch für das, was man früher „Außenpolitik“ nannte und jetzt (mit einigen zusätzlichen Konnotationen) als „Regieren jenseits des Nationalstaates“ bezeichnete.

Dass die Bundesregierung darauf verzichtete, die „Methoden modernen Regierens“ zu präzisieren, ist natürlich nicht weiter überraschend. Wohl aber wundert man sich heute, ob es konzeptionell jemals einen Unterschied gab zwischen dem ursprünglichen „dritten Weg“ und dem späteren „deutschen Weg“. Heute jedenfalls ist mehr als offensichtlich, dass die Lust am Regieren diesseits des Nationalstaates seit 1990 nie stärker ausgeprägt war als unter der vermeintlich internationalistischsten Regierung, die Deutschland je kannte.

Woran sieht man das? Die zukünftigen Wissenschaftler der „Public Policy“ könnten dem Bundeskanzler in einem der geplanten „Executive Seminars“ eine Fülle von Literatur an die Hand geben, die den Unterschied zwischen beiden Formen des Regierens auf den Punkt bringt. Und zur Illustration vormodernen Regierens könnten sie ihm jede Menge Anschauungsmaterial aus seiner eigenen Regierungspraxis der letzten sechs Jahre vorlegen.

Das beginnt schon beim Vokabular. Dass Deutschland im Kosovokrieg als „normaler Verbündeter“ auch ohne UN-Mandat nicht abseits stehen konnte, im Irakfall aber auch dann den „deutschen Weg“ nicht verlassen durfte, wenn die Vereinten Nationen einstimmig Zwangsmaßnahmen vereinbart hätten, zeigt bereits, was gemeint ist: Wenn der Kanzler sagt, dass „nationale“ Interessen „selbstbewusst“ durchgesetzt werden müssen – machen wir es eben „so, wie die anderen das auch machen“.

In dieser Wortwahl spiegelt sich die veränderte außenpolitische Praxis im Vergleich zur vermeintlich selbstbewusstlosen alten Bonner Republik. Der Multilateralismus wird als ein wichtiger Ausweis modernen staatlichen Regierens jenseits des Nationalstaates zwar noch immer groß auf die deutsche Fahne geschrieben, aber bei genauerem Hinsehen werden die klaren Grenzziehungen zum Gegenbegriff, dem Unilateralismus, immer mehr verwischt. Schließlich wird in der anspruchsvollen Variante modernen Regierens mit multilateralem Vorgehen nicht nur die (ad hoc-)Koordination mit mehr als zwei Staaten verstanden – sondern eine stärker institutionalisierte Form der Kooperation. Diese Form bietet vor allem klare Verhaltensregeln, die verhindern sollen, dass stärkere Staaten schwächere Staaten ausnutzen.

Von dieser anspruchsvollen Form hat sich die gegenwärtige Bundesregierung in den letzten Jahren stetig entfernt. Die Suspendierung des europäischen Stabilitätspakts ist hier nur das prominenteste Beispiel. Die zunehmende Bi- und Trilateralisierung der europäischen Großmachtbeziehungen innerhalb der EU (etwa in der Form des deutsch-französisch-britischen Direktoriums) und die damit einhergehende Vernachlässigung der Beziehung zu den „kleineren“ EU-Staaten sind weitere Beispiele für die Aushöhlung eines anspruchsvollen Multilateralismus.

All dies ist aber noch vergleichsweise harmlos, wenn man bedenkt, dass im letzten Jahr sogar die Steinzeit des Regierens diesseits des Nationalstaates mit der Entdeckung der vermeintlichen Vorzüge einer „multipolaren Welt“ auch in Berlin wieder modern wurde. Dass die SPD-Fraktion im Februar 2003 beim Stichwort „Multipolarität“ in „stürmischen Beifall“ ausbrach, wie vielfach berichtet wurde, mag man mit dem angestauten Frust über den US-Unilateralismus noch abtun.

Dieser Enthusiasmus ist aber nicht mehr vernachlässigenswert, wenn der Kanzler selbst im Mai 2003 im Rahmen eines Gottesdienstes während des Ökumenischen Kirchentages meinte, als klare „Botschaft“ vernommen zu haben, dass alle Menschen guten Willens „an dem Bild einer multipolaren Welt festhalten“ sollten. Aus dem Zusammenhang der Rede ist zwar nicht klar, ob der Kanzler an dieser Stelle nicht doch eigentlich „multilaterale Politik“ meinte, denn sein Zusatz lautete, dass alle Menschen versuchen sollten, „die Konflikte dieser Welt mit friedlichen Mitteln zu lösen“. Diese Vorgehensweise gehörte ja nicht gerade zum typischen Repertoire der Großmächte unter den Bedingungen der Multipolarität während des 19. sowie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Die vermeintlich „internationalistische“ rot-grüne Regierung hat Lust auf nationalistisches Regieren

Weder die eine noch die andere Interpretation wäre jedoch dazu angetan, das Vertrauen in die „neuen Methoden modernen Regierens“ dieser Regierung zu stärken. Im einen Fall hätte ihr höchster Repräsentant seine Präferenz für eine der Urformen des zwischenstaatlichen Verkehrs im westfälischen Staatensystem kundgetan – das klassische Spiel der Großmächte, das im besten Fall als „Konzert“ inszeniert wird, den Rest der Staaten aber stets ignoriert, von „nichtstaatlichen“ Akteuren ganz zu schweigen.

Dies wäre eine grundlegende Veränderung deutscher Außenpolitik, die allerdings erklären würde, warum der Kanzler neuerdings wieder darauf besteht, dass Deutschland einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat bekommen muss. Oder aber Gerhard Schröder kennt den fundamentalen Unterschied zwischen Multilateralismus und Multipolarität nicht. Ob dies bei einem Kanzler neu wäre, sei dahingestellt. Es würde allerdings neue Zweifel an der „Governance“-Kompetenz der deutschen Außenpolitik wecken – und einen Grund mehr liefern, warum wir nicht nur viele private Hochschulen für „Public Policy“ brauchen, sondern auch viele „Executive Seminars“.

GUNTHER HELLMANN