Einer raus, einer rein!

Mit einiger Wahrscheinlichkeit ist das Studio 21 im lippischen Silixen die älteste Diskothek Deutschlands. Völlig sicher hingegen ist: Nach 38 Jahren ist nun endgültig Schluss! Ein Abschiedsbesuch

VON CORNELIA KURTH

„Oh, Sie sind schon da … Jaja, ich komm dann mal gleich runter!“ Vor Verschlafenheit ganz rau klingt die Männerstimme aus der Gegensprechanlage. Sonntagmittag, 14 Uhr kann verdammt früh sein für einen Diskothekenbesitzer, der erst morgens um 9 die Tür hinter dem letzten Gast verschlossen hat. Die Frühjahrssonne knallt auf den Parkplatz vor der „ältesten Disko Deutschlands“, die sich nicht in irgendeiner der Metropolen befindet, sondern im kleinen Dörfchen Silixen, im lieblichen Lipperland, wo Menschen leben, von denen die benachbarten Schaumburger sagen: Die gehen doch zum Lachen in den Keller!

Als die Dorfgaststätte Eggers 1965 umgetauft wurde in „Studio 21“ – oder eigentlich bereits, als sich herumzusprechen begann, dass da einer etwas so Eigenartiges wie eine „Diskothek“ aufmachen wollte –, da lachten die Silixer noch nicht mal im Keller, sondern Aufregung und Empörung waren angesagt: „Mein Gott, Hilfe, jetzt kommt der Beat!“, hieß es. „Jetzt kommen die Hippies und Rowdys auch zu uns!“

So ganz Unrecht hatten sie ja nicht, die besorgten Dörfler. „Ein Abend ohne Prügelei, das war wie ein Himmel ohne Sterne“, sagt Inhaber Bernd Helmke, der damals 25 Jahre jung war und dessen Augen auch mit seinen heute 63 Jahren noch fröhlich aufblinken, wenn er seine rechte Faust in die Höhe hebt und sie liebevoll abtastet: „Jeder einzelne Fingerknochen war schon mal gebrochen. Ja, das waren Zeiten …“

Zehn Minuten hat er gebraucht, um aus dem Bett zu kommen, dafür aber sieht er erstaunlich fit aus, als er aus der Tür tritt und in die helle Sonne blinzelt, die Wangen rot, die Haare flott frisiert in lauter Grissellocken à la Rudi Völler, ein eher kleiner, robuster und auf Anhieb ziemlich charmanter Mann, der so gutmütig grinst, dass die Geschichten, die er später erzählt, ganz unglaublich klingen: wie er sich mal eine Wettfahrt mit der Polizei lieferte und später auf der Wache die Schreibmaschine so an die Wand knallte, dass sämtliche Tasten durch den Raum flogen; wie er einem mit Waffe randalierenden Türken ins Bein schoss, um ihn ruhig zu stellen; wie ihm die Polizei höchstpersönlich einen messerdurchstochenen Reifen flickte, damit er sich bloß aus dem Umkreis einer drohenden Prügelei entfernen möge; und wie er sowie nichts kannte, wenn einer ihm dumm kam oder auch zwei oder drei auf einmal.

„Ach, das hat er doch nur gemacht, wenn er betrunken war“, sagt seine Frau, die gute Acka, die seit 38 Jahren hinterm Tresen steht und nebenbei drei Kinder großgezogen hat. „So ’n Quatsch!“, mault Bernd. „Ich war nicht betrunken. Ich schlag mich und ich vertrag mich, alles zu seiner Zeit!“

Was für ein seltsamer Ort für einen Sonntagmittag, diese nur schummrig beleuchtete Diskothek, in der die Heizung abgestellt ist und Acka fragt: „Cola wollen Sie? Und was soll da noch rein?“ – Wie, was denn noch? – „Na, noch was anderes eben …“, und man könnte glauben, sie meine geheimnisvolle Drogen, deren Namen man besser nicht ausspricht, diese liebenswürdige Frau Mitte sechzig, die man sich auch gut als Kartoffeln-aus-dem-eigenen-Garten-Verkäuferin auf dem Wochenmarkt vorstellen könnte, oder nein, noch besser als die Wirtin der ehemaligen „Dorfgaststätte Eggers“.

Sofort fühlt man sich auf angenehme Weise zurückversetzt in eine fast ausgestorbene Art von Diskotheken, die auf geniale Weise dunkle Verruchtheit mit der Ausstrahlung eines alternativen Wohnzimmers verbanden: heimelige Plauderecken, eine blitzblank rot-golden glänzende Theke, die Wände natürlich schwarz, durchaus perfekt die Musikanlage und die Beleuchtungseffekte vor der Spiegelwand der Tanzfläche. Und dann die Herrscherbühne des Discjockeys („DJ“ zu sagen fällt hier schwer), in dessen Reich neben unzähligen CDs ebenso unzählig viele Schallplatten stehen, Schätze, in Jahrzehnten zusammengetragen und immer wieder auch aufgelegt vom Inhaber höchstpersönlich.

Älteste Disko Deutschlands, das ist, zugegeben, ein etwas definitionsbedürftiger Begriff. Wenn man „Diskothek“ einen öffentlichen Raum nenen will, wo ein Mensch Platten auflegt, wo getanzt und getrunken wird, dann entstand die erste deutsche Diskothek Ende der Fünfzigerjahre in Aachen, noch vor dem offiziellen Eröffnungsdatum der ersten Disko Amerikas, dem Whiskey A Go Go in Los Angeles. In Berlin-Kreuzberg hat es bereits 1961 eine Disko geben, und im Internet nimmt den Titel der „ersten Disko Deutschlands“ der damalige Club 69 (heute Wilhelmshöhe) im ostwestfälischen Bünde in Anspruch. Der Diskogründungsrausch begann aber erst Ende der Sechziger-, Anfang der Siebzigerjahre, und selbst das legendäre Hamburger „Grünspan“ kann auf eine gerade mal 35-jährige Geschichte zurückblicken.

Erste Disko, erste Disko! Davon reden wir doch gar nicht“, meint Bernd Helmke mit einem Hauch Ungeduld in der Stimme. „Sicherlich gab oder gibt es irgendwie, irgendwo in Bünde eine Disko, die vor uns aufgemacht hat – aber wie oft haben da der Inhaber und der Name gewechselt! Wir sind die älteste Disko, die 38 Jahre lang kontinuierlich in einer Hand geblieben ist – in meiner nämlich!“

Studio 21. Der Name hat selbstverständlich eine Geschichte. „Wir waren 21 Jungs, die sich immer trafen, in Lüdershausen, da wohnte ich und arbeitete als Raumgestalter. Das war so um 1963, im Keller einer alten Kneipe. Alle brachten ihre Musik mit, und wir koppelten unsere Plattenspieler zusammen. Eine richtige verschworene Gemeinschaft, Mädchen waren da noch gar nicht bei. Nach und nach kamen immer mehr Leute aus den Dörfern ringsum, und wir hielten Ausschau nach einem Saal. Das sprach sich rum wie ein Lauffeuer, noch bevor irgendwas passiert war.“

Ein Gastwirt, der mutig im Nachbardorf Almena seinen „Saal“ zur Verfügung stellte, konnte sich nicht beklagen. Obwohl das Bier nur vierzig Pfennig kostete, machte er gewaltigen Umsatz. Eine Mark Eintritt nahmen die „Jungs“, und sie waren geradezu euphorisiert von ihren unglaublichen Einnahmen: „Hundert Mark Reingewinn – wir waren reich!“

Was tun mit dem Geld? Die meisten wollten sich einfach nur großartig besaufen, andere, wie Bernd Helmke, wollten auf eine gute Musikanlage sparen, konnten sich aber nicht durchsetzen. Da stellte sich der Nochraumausstatter und baldige Diskogründer breit hin und sprach: „Leute, es kann nur einer das Sagen haben! Wenn ihr nicht wollt, dann mach ich das Ding allein!“ Als dann auch noch der Saalwirt seinen Reibach machen wollte, jedes zerbrochene Glas einklagte und die Nebenkosten hochdrückte, war die Sache entschieden. Bernd Helmke unterschrieb eines Nachts auf einem Bierdeckel den Pachtvertrag für die „Gaststätte Eggers“ in Silixen: „Am nächsten Morgen war ich Kneipenpächter.“

Gaststätte Eggers, das war nun ausgerechnet der Lieblingstreffpunkt von Tauben- und Kaninchenzüchtern, vom Gesangs- und Fußballverein und von den Schützen. Ungefähr ein Jahr lang konnte es so halbwegs gut gehen, dass sich die jungen Leute und die Traditionalisten denselben „großen Saal“ teilten. Dann war Schluss. „Tja, die älteren Leute, die sonst nur im Chor gesungen hatten, die kamen nicht klar mit den Stones und dem Beat …“ Und sie fanden es auch sehr unvertraut, dass nun schwarze Holzbretter an die Wände genagelt und Bundeswehrtarnnetze unter die Decke gehängt wurden, ganz abgesehen von den nicht ganz legal beschafften Baustellenlampen, die, mit Kerzen bestückt, überall herumstanden. Die Vereine zogen rüber zur Konkurrenz, und ein allgemeiner Boykott gegen „den Beat“ hob an.

Während sich vorher niemand großartig um die Polizeistunde um ein Uhr nachts geschert hatte, gab es nun ständig Ärger mit dem Ordnungsamt. Die Polizisten kamen gar nicht mehr hinterher mit dem Knöllchenschreiben, denn praktisch alle Dorfstraßen wurden zum Halteverbot erklärt. „Wir haben ja gar keinen Eintritt genommen – der Eintritt waren die fünf Mark fürs Falschparken.“

Als dann sogar der Pastor von der Kanzel gegen das Studio 21 predigte, schlug Bernd Helmke zurück. Nicht mit der ansonsten vielbeschäftigten Faust, sondern mit der Drohung, seinen Parkplatz gegenüber der Kirche zu sperren, jeden Sonntag zur Gottesdienstzeit. Das zog. „Und außerdem war ich der beste Fußballspieler am Ort, kein schlechtes Machtmittel“, sagt er. „Ohne mich hätte Silixens Fußball einpacken können!“

Der Mann sieht so nett aus. So gemütlich, fast wie ein Hobbit aus dem Auenland, dem man nichts weniger nachsagen kann als die Lust am Kämpfen. Aber diese auf so schöne Weise selbstzufriedene Ausstrahlung, sie kommt wohl daher, dass er wirklich mit sich zufrieden ist: „Das Studio 21 ist mein Lebenswerk. Meins und Ackas.“

Viele Jahre lang bildeten sich schon ab halb acht Warteschlangen vor der Tür, und von Jahr zu Jahr wurde es später und später, dass die letzten Gäste das Lokal verließen. Anfangs bestanden zusätzliche Attraktionen eigentlich nur darin, dass Nachwuchsbands aus der Umgebung aufspielten, bis allmählich die üblichen Shows Einzug hielten: Lack&Leder, Man-Strip, Miss-Germany-Wahl und, Highlight, die „Harry-Burg-Show“ aus Hamburg. Mit modernen Großraumdiskos wollte das Studio 21 nie mithalten. Hätte es auch nicht gekonnt, denn mehr als fünfhundert Leute passen beim allerbesten Willen nicht in die verwinkelten Räumlichkeiten.

Die Konkurrenz jedoch wurde immer deutlicher spürbar. „Eigentlich will ich es nicht wahrhaben“, sagt Helmke, „aber nach all den Jahren geht es mit uns langsam so zu Ende wie mit den kleinen Bauern und den kleinen Lebensmittelhändlern.“ Sooo schlimm findet er das aber auch wieder nicht. So frisch und gesund er auch aussieht, das wilde Leben hat ihm doch schon drei Bypässe eingebracht, eine weitere Operation steht unmittelbar bevor. Und Frau Acka wartet seit Jahr und Tag darauf, dass endlich mal Schluss ist mit der Unbürgerlichkeit. Während Bernd Helmke locker mit den unterschiedlichen Schlafenszeiten klarkommt und wie ein Kind auf jedem Sofa ein nachholendes Nickerchen machen kann, geistert Acka in den stillen Nächten der „Ruhetage“ unruhig durchs Haus. „Ach, das Rentnerleben, das kommt uns eigentlich ganz recht!“

In ein paar Tagen wird die abschließende große „Veteranenparty“ gefeiert, das Abschiedsfest, zu dem auch einige der 21 „Jungs“, die damals so befreundet waren, aus ganz Deutschland anreisen. „’ne ganze Reihe sind ja schon tot …“, stellt Helmke fest, nickt dabei seiner Frau augenzwinkernd zu und freut sich ganz unschuldig, dass er selbst noch so lebendig ist. Das Fest wird toll werden, die Musik von früher ist schon ausgesucht, es wird einen Holzkohlegrill geben und einen Extrabierwagen für den Parkplatz, denn so viele Gäste erwartet man, dass es wie in alten Zeiten wieder heißen wird: „Einer raus, einer rein!“

Für das Dorf Silixen mit seinen 2.800 Einwohnern geht allerdings nur einer raus, und niemand kommt mehr rein. Fünf Kneipen gab es ehemals im Ort, mit dem Studio 21 schließt die letzte.

CORNELIA KURTH, geboren 1960, lebt als freie Autorin in Rinteln an der Weser. Privat war sie zuletzt vor acht Jahren in einer Disko. In Tunesien, drei Urlaubswochen lang fast täglich