Scham macht geil!

Sie gilt als Relikt der Bügerlichkeit, als überholt und spießig: Scham. Ist sie das wirklich? Eine Verteidigung der Züchtigkeit

von AXEL KRÄMER

In dem Film „For the Boys“ wird Bette Midler von einem kleinen Jungen gefragt, ob denn Küssen etwas Schmutziges sei. Sie grinst verschwörerisch und antwortet: „Wenn du’s richtig machst, schon!“

Sinnliches Begehren in all seiner Widersprüchlichkeit lässt sich kaum griffiger auf den Punkt bringen. Der Akt des Küssens an sich ist harmlos, je nach Übung fast mechanisch. Unanständig wird er durch das, was in den Köpfen passiert. Durch das Bewusstsein, das sonst natürliche körperliche Sperrgebiet eines anderen Menschen zu erobern.

Doch erst, wenn dieses Körperlichkeit eigentlich Tabu ist, erst das Wissen, etwas Verbotenes zu tun, macht den Reiz von Erotik aus. Man braucht die Grenze, um sie in einem Akt der Schamlosigkeit überschreiten zu können.

Scham und Schamlosigkeit müssen mit Raffinesse ausbalanciert werden. Lediglich durch ihr Wechselspiel ist Sexualität überhaupt richtig zu genießen. Ohne Scham gäbe es nicht die Kreativität der Verführung, bei der die sexuelle Lust durch vorsichtige Andeutungen, Allegorien und Ausreden verschleiert und gebändigt wird. Und das nur, um ihr vom richtigen Zeitpunkt an umso hemmungsloser frönen zu können.

Doch es gibt auch lustfeindliches Schamempfinden. Eine persönliche Erinnerung an die Siebzigerjahre: Bei ausgelassener Stimmung in der Familie konnte es passieren, dass unsere Hündin von einer unvermittelten Lüsternheit gepackt wurde. Sie tobte wild herum und zog so die wohlwollende Aufmerksamkeit der Runde auf sich. Dann besprang sie plötzlich das Bein eines Familienmitglieds – gerne durfte es auch das eines Besuchers sein –, umklammerte es mit den Vorderpfoten und verrichtete mit dem Hinterleib Kopulationsbewegungen. Dabei gab sie merkwürdige Grunzlaute von sich.

An diesem Punkt kippte die Stimmung. Am Gesicht meiner Mutter ließ sich beobachten, wie sich ihr Gemüt verfinsterte. Sie schnaubte das Tier an: „Hör auf damit!“ Keiner hätte gewagt, die Hündin in Schutz zu nehmen und darauf hinzuweisen, dass sie sich in ihrem nicht vorhandenen Schamempfinden doch ganz naturgemäß vom Menschen unterscheide.

Meine Eltern gehörten zu einer Generation, die immer noch von den Verklemmungen früherer Jahrzehnte traumatisiert war: als körperliche Scham noch mit Gefühlen der Schuld und der Schande vermischt wurde.

Inzwischen hat eine so genannte sexuelle Revolution die letzten Barrieren gesprengt. Scham gilt quer durch alle Bevölkerungsschichten als Relikt aus vormoderner Zeit, das mitleidig belächelt wird.

Tatsächlich kann niemand ernsthaft den Zeiten nachtrauern, als Schamgefühle dazu missbraucht wurden, Liebe und Sexualität zu reglementieren. Schließlich stand in der Vergangenheit für all jene, die sich über diese Verbote hinwegzusetzen wagten, die gesellschaftliche Existenz auf dem Spiel. Daran muss immer wieder erinnert werden – wie neulich von Todd Haynes mit seinem filmischen Fünfzigerjahreportrait „Dem Himmel so fern“, das die Tragödie um das Ehepaar Whitaker in einer amerikanischen Kleinstadt erzählt.

Das Unheil beginnt, als Cathy ihren Mann Frank beim Sex mit einem anderen Mann erwischt. Die mühselig aufrechterhaltene Familienidylle nimmt schweren Schaden. Frank gerät in eine Spirale des Selbsthasses und wird immer aggressiver, während seine Frau Trost beim schwarzen Gärtner sucht – und dadurch einen Skandal in ihrer Stadt auslöst. Am Ende des Films muss Cathy erkennen, dass sie mit ihrer Verzweiflung auf sich allein gestellt ist.

Würde man sich die Geschichte der Whitakers ins Jahr 2003 denken, müsste man ihre Rahmenbedingungen radikal ändern. Und zwar so, dass einen zeitreisenden Sozialwissenschaftler aus den Fünfzigerjahren unmittelbar das Gefühl beschleichen würde, in ein anderes Universum katapultiert worden zu sein.

Heutzutage wären Cathy und ihr Ehemann keineswegs den Anfeindungen eines wütenden Mobs ausgeliefert. Vielmehr stünden ihnen nach der Entdeckung von Franks homosexueller Seite eine Reihe von Möglichkeiten offen, sich in ihrem Liebes- und Sexualleben zu arrangieren – entweder gemeinsam oder getrennten Weges. Ohne dabei das Risiko von Verfolgung oder sozialer Isolation auf sich zu nehmen.

Vermutlich würden die Whitakers in einer nachmittäglichen TV-Talkshow offen über ihre Beziehungsprobleme plaudern. Denn das Verhandeln intimer Angelegenheiten vor großem Publikum zählt heute zur allgemein anerkannten Alltagskultur.

Teilweise darf man dieses Medienphänomen wohl als eine Folge, ja vielleicht sogar als unmittelbaren Ausdruck von Demokratisierung und Emanzipation werten. Zu verdanken ist das nicht zuletzt dem Kampf gegen Aids, der Mitte der Achtzigerjahre der detaillierten Thematisierung von Sexualität eine breite gesellschaftliche Akzeptanz bescherte. Bis dahin hatte selbst die Anleitung zum Gebrauch eines Kondoms mit einem Besenstiel einen Sturm der Entrüstung ausgelöst.

Doch es zeigt sich, dass das Reden über Sex längst nicht als Rüstzeug für die Kunst der Verführung dienen soll. Stattdessen ist es dem Leistungsprinzip einverleibt worden, das Sex zu einer Tausch- und Massenware degradiert. Dabei bedarf es einer echten zwischenmenschlichen Beziehung nicht mehr, von Hingabe und Leidenschaft an das andere (nicht: an das stimulierende Material) keine Spur.

In seinen Romanen über Swingerclubs und Sextourismus hat der französische Schrifsteller Michel Houellebecq diese Schamlosigkeit detailliert beschrieben und dabei die Skizze einer debilen Gesellschaft gezeichnet, in der nur halbwegs glücklich zu sein scheint, wer regelmäßig ausgefallenen Sex hat – und dagegen hochdepressiv, wer bei diesem Marathon nicht mithalten kann. Eine Fiktion, die von der Realität zum Teil noch übertroffen wird.

Für viele beherrscht die unverhüllte und zielgerichtete Suche nach Orgasmuserlebnissen immer stärker das Alltagsleben, für einige ist sie gar zum alles bestimmenden Lebenszweck mutiert. Nirgendwo sonst wird das deutlicher als in den Kontaktforen im Internet, die inzwischen zu einem Massenphänomen geworden sind.

Einige Teilnehmer machen in der Selbstbeschreibung auf ihren Homepages keinen Hehl daraus, dass es ihnen ausschließlich um die Erweiterung ihrer sexuellen Selbsterfahrung, um die ständige Verschiebung ihrer eigenen Grenzen geht, die sie jedoch auf diese Weise wohl niemals finden werden. Jedenfalls nicht, solange das Gegenüber austauschbar bleibt.

Es ist verblüffend, wie selbstverständlich die Verweigerung sexueller Extrovertiertheit als persönliches Defizit interpretiert wird. Wer der Nacktreize in der Reklame überdrüssig ist, wer den Oben-ohne-Exhibitionismus auf der Love Parade eher befremdlich findet und nichts für die prätentiöse Fummelei schwuler Pornostars auf dem Christopher Street Day übrig hat, gerät mitunter in den Verdacht, hoffnungslos spießig und verknöchert zu sein.

Wer nicht inflationär Sex hat oder zumindest nicht offen und unverblümt darüber reden will, wer sich nicht sofort zu seinen speziellen Vorlieben bekennen kann, wer also kurzum immer noch über einen Funken sexuellen Schamgefühls verfügt – der gilt in manchen Kreisen als gehemmt und blockiert.

Darum ist so manch einer der Überzeugung, Sexualität in den Medien noch weiter ausreizen, enttabuisieren und von den allerletzten Überresten der Scham befreien zu müssen. So wurde neulich Matthias Frings, früherer Moderator und Schöpfer des TV-Aufklärungsmagazins „Liebe Sünde“, in der Besprechung eines neuen Erotikmagazins ausdrücklich als Vorbild gepriesen.

Denn Frings sagt, ganz aufgeklärter Weltbürger, er könne über das „Abspritzen“ plaudern, „ohne dass dabei zwei Omas bei Kaffe und Kuchen die Schamesröte ins Gesicht“ steige. Auch wenn das eine gut gemeinte Übertreibung sein sollte, so mutet sie doch eher wie eine abstoßende und nachgerade apokalyptisch abtörnende Vision an.

Verschwindet die Scham, wäre der Sex von da an langweilig und reizlos. Etwa so, wie er jüngst in den Bekenntnissen der Catherine Millet beschrieben wurde. Die französische Kunstexpertin, die sich selbst freudig als „außergewöhnlich hemmungslos“ bezeichnet, schildert in ihrer Autobiografie Orgien mit bis zu hundertfünfzig Teilnehmern. Gefühle und wahre Intimität finden darin keinen Raum.

„Wenn ich mich während des Akts im Spiegel sehe“, sagt Millet an einer Stelle des Buches, „dann sehe ich vollkommen ausdruckslose Züge.“ Überraschend ist diese Erkenntnis nicht.

AXEL KRÄMER, 36, lebt als Autor in Berlin