Wo ist zu Hause, Mama?

Klassiker: Richard Yates’ zweiter Roman „Eine besondere Vorsehung“

Als Richard Yates Ende der Sechzigerjahre „A Certain Kind of Providence“ schrieb, hatte er sich in den Vereinigten Staaten bereits einen Namen als Schriftsteller gemacht. Mit seinem 1961 erschienenen „Revolutionary Road“ war ihm ein großer Roman gelungen, der die Kritiker begeisterte und nur knapp den renommierten National Book Award verfehlte. Danach verfiel Yates – eingeschüchtert durch die Lobpreisungen seines Erstlings – in eine Schreibkrise, die fast ein Jahrzehnt währte. Das große Publikum allerdings erreichten seine Bücher ohnehin nicht, und allmählich verschwand das Werk des einst so hoffnungsvollen Schriftstellers in der Versenkung. Erst um die Jahrtausendwende setzte mit der Neuauflage von „Revolutionary Road“ in den USA eine wahrhafte Richard-Yates-Renaissance ein. Schriftsteller wie Stewart O’Nan, Richard Ford und Jonathan Franzen beriefen sich auf den 1992 gestorbenen New Yorker Autor als ihr Vorbild, und Kurt Vonnegut nannte ihn die „Stimme einer ganzen Generation“. Auch in Deutschland erlebte der gnadenlos düstere Eheroman („Zeiten des Aufruhrs“) einen beachtlichen Erfolg.

Nun ist – nach dem Spätwerk „Easter Parade“ und Erzählungsbänden – Richard Yates’ zweiter Roman in deutscher Übersetzung erschienen, unter dem etwas unbeholfen wirkenden Titel „Eine besondere Vorsehung“. Die Bildhauerin Alice Prentice und ihr Sohn Robert fühlen sich zu etwas Besonderem berufen und machen die Umstände dafür verantwortlich, dass ihnen im Leben nichts so recht gelingen will. Wie die Eheleute April und Frank Wheeler aus „Revolutionary Road“ wähnen Mutter und Sohn sich besser als die anderen Leute, begabter, intellektueller, auf undefinierbare Weise kultivierter. Obwohl ihre drittklassigen Skulpturen höchstens die Gärten von wohlmeinenden Freunden zieren, träumt Alice immer noch von einer Karriere als Bildhauerin und einer eigenen Ausstellung. Auch der kleine Robert, der natürlich eine Privatschule besuchen muss, ist Teil dieser Vision von einer großen Zukunft, die sich von der Wirklichkeit keinesfalls beirren lässt. Dass die alleinerziehende Mutter nicht einmal das Geld hat, um die Miete zu zahlen, kümmert sie wenig. Irgendwann wird die Welt schon begreifen, welch große Künstlerin Alice Prentice ist. Bis dahin ertränkt sie ihre Unzufriedenheit in Alkohol, der auch in diesem Roman wie in den anderen Büchern Yates’ reichlich fließt.

Unverkennbar verarbeitet der 1926 geborene Richard Yates, der mit seiner schauspielerisch ambitionierten Mutter und der Schwester ständig von Ort zu Ort zog, weil das Geld nie reichte, eigene Kindheitserlebnisse. Auch im letzten Teil des Romans, in dem Robert Prentice im Zweiten Weltkrieg an der belgischen Front gegen die Deutschen kämpft, spiegeln sich die Erfahrungen des Autors wider, der als Soldat am Ende des Krieges nach Europa geschickt wurde und sich eine schwere Tuberkulose zuzog. Wie seine Mutter hängt Robert hochfliegenden, durch Filme inspirierten Träumen vom heldenhaften Leben nach, doch zum Helden eignet sich der schüchterne Junge, der ständig über seine eigenen Füße stolpert, gar nicht. Er scheitert als Soldat ebenso wie als Liebhaber, und am Ende lädt er sich noch schuldlos eine erdrückende Schuld auf.

Die realistischen Kriegsszenen, in denen junge Männer wie verängstigte Kaninchen durch die Gegend irren und gelegentlich ein paar Schüsse abgeben oder durch Minen zerfetzt werden, stehen in bester Antikriegsroman-Tradition. Der traurigste und zugleich packendste Teil des Buches, das durch seinen unchronologischen Aufbau und mehrere Perspektivwechsel etwas zerstückelt erscheint, ist jedoch der mittlere. Auf der Suche nach Anerkennung und ein wenig bürgerlicher Normalität zieht Alice mit dem kleinen Bobby durch das halbe Land – ständig auf der Flucht vor Vermietern, Lebensmittelhändlern und der tristen Realität. Schließlich ist es ihr Sohn, der viel zu früh die Rolle des vernünftigen, männlich-resoluten Familienoberhauptes übernehmen muss. Wenn Robert seine eigenen Selbsttäuschungen nicht erkennt, so durchschaut er schon früh die Tragödie seiner Mutter. „Warum lässt du mir nicht meine Illusionen?“, fragt Alice’ halb gekränkter, halb betrunkener Blick beim Abendbrot im schmuddeligen Restaurant. „Weil es Lügen sind, sagte er sich, während seine Kiefer das billige Essen mahlten.“ MARION LÜHE

Richard Yates: „Eine besondere Vorsehung“. Aus dem Englischen von Anette Grube. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2008, 390 Seiten, 19,95 Euro