Blume aus Beton

Vor der Tür zum Paradies: Mit ihren Fotografien „Im Garten II“ lädt Heidi Specker zu einer Wanderung durch die zweite Natur der Stadt ein

VON YVES ROSSET

Eines macht die Ausstellung von Heidi Specker in der Galerie Barbara Thumm unbedingt sehenswert: Sie erinnert uns daran, dass draußen in der Stadt unzählige Details darauf warten, unsere Aufmerksamkeit gefangen zu nehmen. Dafür reicht ja schon das Schattenspiel der dunklen und hellgrünen Blätter, die vor dem Hintergrund monotoner Fassaden in den blauen Himmel emporragen. Oder eine auf dem Potsdamer Platz nah fotografierte Baumrinde, die sich beim längeren Betrachten in eine melancholisch anmutende Landschaft aus Flechten und Rissen verwandelt.

Die präzise und karge Art, mit der Specker solche Einzelheiten auf der Bildfläche festhält, liegt in einer klaren Kontinuität mit ihren früheren Architekturbildern, die sie bekannt gemacht haben. Dort bildete sie die Struktur moderner Fassaden als strikte geometrische Muster ab, wobei sie digitale Bildbearbeitung und Drucktechnik konsequent nutzte.

Jetzt ist eine Entwicklung zu beobachten, die minimalistische Tableaus von eindringlicher Schönheit produziert, die die Wunderformen des Organischen mit den Linien der baulichen Wucherungen der Stadt verschränken. Auch untilgbare Spuren der Kunstgeschichte scheinen auf. So wird man bei der Abbildung einer gewöhnlichen Betonplatte das Gefühl nicht los, dass feuchte Flecke und die Spuren der Holzverschalung auch ein gemaltes Fresko sein könnten. Und eine ins Sonnenlicht getauchte Siedlungswiese wird für einen Augenblick zur Vorstellung vom Paradies, wie wir es von alten Gemälden kennen.

Die Art der visuellen Annäherung, die Speckers Fotografie charakterisiert, wurde zu Recht mit einem „Abtasten“ verglichen. Suchen, tasten, befühlen also, mit der Kamera als taktilem Sinnesorgan. Die Vielfalt der Motive erschließt dabei kein eindeutiges thematisches Feld. Vielmehr liefert sie bestenfalls das Rohmaterial für eine Erzählung, die erst durch die Erfahrung des Betrachters vervollständigt werden kann. Er trifft in den Bildern übrigens auf kein Gegenüber, denn es herrscht in Speckers fotografierter Welt völlige Menschenleere.

Wenn ein Garten also oft als „Welt im Kleinen“ bezeichnet wird, dann ist Speckers „Im Garten II“ ein merkwürdiger Ort: wie vor seiner Eroberung und Besiedelung durch den Menschen – inmitten einer von Menschen erbauten Welt. Da glitzern die Windungen eines Strauchs, der wie versteinert wirkt; dort gleißen amazonasgrüne Spuren auf der Bismarckstraße neben den immer wieder neuen Linien, die Baumstämme vor dem Hintergrund unterschiedlicher Hauswände bilden. Selbst eine Blume findet sich abgebildet, allerdings eine aus Beton.

„Sehnsucht nach pflanzlicher Existenz?“, fragte der Dichter Rolf Dieter Brinkman einmal und fügte sofort hinzu: „wie muss mein Gehirn verrottet sein – Rummsbumms, schlägt die Tür des Gartens zu.“ Wie sich die Sehnsucht nach dem Paradiesischen aber in die verschlossene Tür selbst eingeschrieben hat, wird aus Speckers Bildern lesbar.

Im Büroraum der Galerie hängen vier Bilder, die alle „Sonntag“ heißen und endlich die Spur des Erzählerischen verdichten. Es ist Winter und draußen ist die Welt wieder kalt geworden. Der Blick wird intimer, melancholischer. Blaues Eis, Schnee auf dem Bürgersteig, vereiste Straße, nackte, dunkle, triste Äste, die sich in Pfützen spiegeln, kaltes Sonnenlicht. Danach gibt es nichts mehr. Es sei denn, man fängt wieder von vorne an. Das Schattenspiel der dunklen und hellgrünen, farnartig gefiederten Blätter, die vor dem Hintergrund eines monotonen Fassadenhorizonts in den blauen Himmel emporragen und die Sinne streicheln. Speckers Garten ist fein, aber nicht sehr groß. Einige Schritte reichen, um wieder in die Stadt zurückzukehren. Es ist Frühling und das Glück lässt sich jede Sekunde einatmen.

Galerie Barbara Thumm, Dircksenstraße 41, Di.–Fr. 11–18 Uhr, Sa. 13–18 Uhr, bis 29. Mai