Exemplarische Ambiguität

Nicht unumstritten, was Frauenbild und Rollenzuweisung angeht: John Cassavetes‘ Oscar-nominiertes Ehedrama „A Woman under the Influence“ kommt im 3001 zur Wiederaufführung

„What‘s your take on Cassavetes?“ fragen die feministischen Disco-Punks Le Tigre in einem ihrer Songs und liefern sogleich die zwiespältige Antwort im Wechselgesang: „Misogynist“ sagt die eine, „genius“ die andere. Cleverer lässt sich die anhaltende Diskussion um geschlechtsspezifische Rollenzuweisungen in John Cassavetes‘ umfangreicher Filmographie wohl kaum verkürzen, abgeschlossen ist sie deshalb noch lange nicht. Und A Woman under the Influence, den das 3001 nun in der Originalfassung zeigt, lädt schon im Titel zur Auseinandersetzung mit dem vermeintlich frauenfeindlichen Genie ein.

Unstrittig ist hingegen die exponierte Stellung, die der Film einnimmt im Gesamtwerk des zielstrebigen Autorenfilmers, der seine persönlichen Arbeiten bekanntermaßen durch kontinuierliche Söldner-Schauspielerei im Mainstream finanzierte. 1974 mit einem lachhaften Budget gedreht, spielte die Independent-Produktion nicht nur sensationelle sechs Millionen Dollar ein, sondern konnte zudem zwei Oscar-Nominierungen verbuchen. Eine ging an den Regisseur, die andere an seine Frau, kreative Komplizin und favorisierte Hauptdarstellerin: Gena Rowlands. Sie verkörpert hier gewohnt berückend die Hausfrau Mabel Longhetti, die sich mit ihrem Mann Nick (Peter Falk) und ihren drei Kindern scheinbar zufrieden in der unteren Mittelklasse eingerichtet hat.

Doch immer häufiger schert die überfürsorgliche Mabel mit verstörender Vehemenz aus der gewohnten Routine aus. Einmal empfiehlt sie ihren Kindern, doch einfach nackt zu tanzen, ständig verliert sie den Bezug zur jeweiligen Situation, und wenn sie sich gar nicht mehr zu helfen weiß, wird Mabel plötzlich gewalttätig. Auf den seelischen Schmerz seiner geliebten Frau reagiert Nick zunächst hilflos, um letzlich doch nach der schrecklichen Logik einer vermeintlich normalen Gesellschaft zu handeln: Auf Anraten seiner Mutter weist er Mabel in eine geschlossene Anstalt ein, aber die erhoffte Genesung bleibt aus. Nach einem halben Jahr in der Psychatrie wird Mabel entlassen – ebenso unglücklich wie zuvor, und voller heilloser Liebe für ihre Familie.

Obwohl Falk und Rowlands überragend aufspielen, und auch das übrige Ensemble – entsprechend des ökonomischen Cassavetes-Nepotismus eine illustre Schar von Vewandten und Freunden – jede Szene mit Leidenschaft erfüllt, bleiben nach zweieinhalb Stunden viele Fragen offen. Will diese Pathologie einer amerikanischen Ehe wirklich die gesellschaftliche Fremdbestimmung und zynische Entmündigung einer zutiefst verzweifelten Frau anprangern? Oder wird hier vielmehr ein monströses Muttertier vorgeführt, dass an einer vom Film zugewiesenen, Gender-spezifischen Veranlagung zum Glucken zu Grunde geht, und alles um sich herum mit in den Abgrund reißt? Es gehört zu den Qualitäten von A Woman under the Influence, auch fast 30 Jahre nach seiner Entstehung nichts von dieser strittigen Ambiguität verloren zu haben. Nur dass Frauenfeinde grundsätzlich nie und nimmer genial sein können, da–ran sollte es bitteschön keinerlei Zweifel mehr geben.

DAVID KLEINGERS

tägl., 20 Uhr, 3001