„Man musste klar reden“

Und die Reden binden, sagt der Historiker Yehuda Bauer. Deswegen sei die Konferenz ein Erfolg, auch wenn sie wenige konkrete Resultate habe

Interview PHILIPP GESSLER

taz: Herr Bauer, wenn man manche der Fensterreden auf der OSZE-Konferenz in Berlin anhört, bekommt man den Eindruck, dass Antisemitismus für manche Diplomaten kein so brennendes Problem ist.

Yehuda Bauer: Nein, ich glaube, das ist nicht der Fall. Ich habe den Eindruck, dass man gerade von dieser Konferenz sagen kann, dass es einen Konsens gibt zwischen den Diplomaten, dass Antisemitismus in jeder Form inakzeptabel ist. Das hat man vorher nicht gesagt. Ob das nun ehrlich gemeint ist oder nicht? Aber es ist eine Sache, die gesagt werden musste.

Sind Sie enttäuscht, dass relativ wenige konkrete Aktionen gegen den Antisemitismus beschlossen wurden – anders als von den Nichtregierungsorganisationen (NGOs) im Vorfeld gefordert?

Ich habe es eigentlich nicht anders erwartet. Man kann auf so einer Konferenz, die nicht von langer Hand vorbereitet worden ist, kaum sehr konkrete Resultate erwarten. Es ist eine Basis geschaffen worden, auf der man weiterarbeiten kann, wenn man will. Es gibt einige Staaten und eine ganze Reihe von NGOs, die das wollen. Da besteht wenigstens die Möglichkeit, dass das weitergeht.

Die NGOs hatten unter anderem gefordert, dass es einen Hohen Kommissar der OSZE zur Bekämpfung des Antisemitismus geben sollte. Das wurde nicht beschlossen.

Das ist ein grundlegender Fehler. Ich hoffe, dass das in der Zukunft korrigiert werden wird. Der Hohe Kommissar ist vielleicht zu hoch gesteckt. Aber es sollte jemanden geben, der verantwortlich dafür ist, dass die Daten zur Lage des Antisemitismus vorbereitet werden und der OSZE unterbreitet werden. Der Druck auf die OSZE in dieser Hinsicht wird, glaube ich, bleiben.

Abraham Foxman, der Leiter der Anti-Defamation League (ADL) in den USA, hat auf der Konferenz kritisiert, es habe Druck von muslimischen Staaten gegeben, dass man den muslimischen Antisemitismus hier auf der Tagung nicht klar benennt. Hatten Sie auch diesen Eindruck?

Ja – und übrigens nicht nur durch muslimische Staaten.

Durch wen noch?

Das kann ich nicht sagen. Ich habe Gerüchte gehört, die ich nicht wiederholen kann oder will. Aber es ist mir klar, dass nicht nur diese, sondern auch andere Staaten sich wegen der Political Correctness nicht dazu bekennen wollten.

Welche Nachricht geht dann von dieser Konferenz aus, wenn man dieses wichtige Thema des muslimischen Antisemitismus nicht klar benennt?

Die Delegationen, die Redner haben es durchaus benannt. Das Interessante ist, dass, obwohl das die offizielle Deklaration nicht sagt, es kaum einen gab, der dies nicht in seiner Rede erwähnt hat, weil man es sagen musste. Man musste klar reden. Ich glaube, das ist schon eine Errungenschaft, die wir vorher nicht hatten.

Wie geht es jetzt weiter? In wenigen Wochen die Konferenz in Paris über Antisemitismus und Internet: Ist das ein sinnvoller nächster Schritt?

Ja, denn das Internet ist durchaus ein Instrument, durch das der Antisemitismus verbreitet wird – übrigens auch der internationale Terror. Man muss Wege finden, um das zu bekämpfen.

Die ADL hat Anfang der Woche eine Umfrage über antisemitische Einstellungen in mehreren Staaten Europas veröffentlicht. Demnach gingen sie in den meisten Staaten zurück. War der Höhepunkt der Verbreitung antisemitischer Klischees im Frühjahr 2002 nur eine vorübergehende Erscheinung, oder müssen wir befürchten, dass Judenhass nach diesem kleinen Rückgang auf hohem Niveau bestehen bleibt?

Das ist ganz ungewiss. Es ist klar, dass ein latenter Antisemitismus in Europa besteht. Offener ist der Antisemitismus bei verschiedenen Minderheiten, besonders bei nicht integrierten muslimischen – aber nicht nur bei denen. Und dass es in den Medien und unter Intellektuellen – mit oder ohne Anführungszeichen – antisemitische Einstellungen gibt, die auftauchen, wenn es einen Vorfall gibt, der sie hervorbringt. Und das kann wieder passieren. Wenn die palästinensisch-israelische Auseinandersetzung zurückginge, würde sich, glaube ich, der Antisemitismus abschwächen. Er würde aber durchaus nicht verschwinden. Denn er existierte vor dieser jetzigen Intifada. Und er wird auch nachher noch existieren.

Sie sind gelegentlich ein scharfer Kritiker von Israels Premier Ariel Scharon, gleichzeitig einer der schärfsten des islamischen Fundamentalismus. Sehen Sie nicht trotzdem die Gefahr, dass der Antisemitismus in Europa vornehmlich auf die Muslime abgeladen wird – nach dem Motto: „Ihr seid daran schuld, dass wir ein Antisemitismusproblem haben, wir in Europa haben eigentlich keines.“

Das glaube ich nicht. Ich glaube, dass die islamische Minderheit in Europa die physischen Attacken gegen Juden verübt. Die Medien, die Intellektuellen und die Akademiker, die sich da in großer Anzahl äußern, haben natürlich mit dieser Art des Antisemitismus nichts zu tun. Die haben ihren eigenen Antisemitismus. Er ist hauptsächlich auf die Dämonisierung und Delegitimation Israels gerichtet. Die Kritik an der Scharon-Regierung, die ich durchaus teile, ist einfach nur die Ausrede dafür.

Der muslimische Fundamentalismus – Sie haben es in letzter Zeit des Öfteren gesagt – sei bereit für einen zweiten Genozid am jüdischen Volk. Hat diese Konferenz diese Sorge, die Sie haben, etwas vertrieben?

Nein, sie hat sie nur ausgedrückt. Es hat niemand hier gesagt, dass das nicht stimmt. Man kann es ja beweisen. Diese muslimischen Antisemiten sagen es ganz offen, sogar im westeuropäischen Fernsehen! Man kann es kaum verneinen.

Wir sind offenbar beim Thema Antisemitismus noch vor einem langen Weg – aber immerhin sieht man das Problem und benennt es.

Man sieht das Problem in gewissen Kreisen. Wie gesagt: Es gibt Staaten, die hier zur Rede kamen, die vielleicht nicht meinen, was sie sagten. Aber auch das ist wichtig, nicht wahr? Man bindet sich dadurch, dass man etwas sagt, auch wenn man es nicht glaubt. (lacht)