Die Nacht, in der der Wind aus Osten kam

Während sich die Außenminister umarmten, brachten 25.000 Deutsche und Polen Volksfeststimmung nach Frankfurt und Słubice. In den Dörfern Aurith und Urad feierte man für ein paar Stunden sogar die Wiedervereinigung

Fünfzehn Minuten nach Mitternacht schien alles möglich. Ohne die üblichen Grenzkontrollen strömten die Menschen über die Stadtbrücke von Frankfurt (Oder) nach Słubice und umgekehrt. Kurz zuvor hatten sich die Außenminister Joschka Fischer und Włodzimierz Cimoszewicz zu den Klängen von Beethovens „Ode an die Freude“ umarmt, Feuerwerkssalven waren in den Himmel gezischt, danach gehört die in blaues Licht getauchte Brücke wieder dem Fußvolk.

25.000 Menschen waren in der Nacht zum 1. Mai nach Frankfurt (Oder) und Słubice gekommen, mehr als an jeden anderen Ort an der deutsch-polnischen Grenze. Verbrüderungsstimmung, wie bei den Außenministern, wollte allerdings nicht aufkommen. Gefeiert wurde trotzdem, oft auch miteinander. „Hier trink – Wodka.“ Der Maurer Bronek, untersetzt und breitschultrig, reicht Gläschen herum. „Von der EU erwarte ich nichts – aber ein Grund zum Feiern ist immer gut.“ Ein Frankfurter mittleren Alters lotst seine Frau über den Fluss: „Ich wünsche mir, dass diese Städte wieder vereinigt werden und es dann vielleicht drei Brücken gibt.“ Seinen Blick hat er fest auf das polnische Ufer gerichtet.

Dort ist die Stimmung ausgelassener als in Frankfurt, die Straßen sind voll, das Bier ist billig. Gemeinsam tauchen Polen und Deutsche unter die Schirme der Bierbänke, in die Rauchschwaden brutzelnder Kiełbasa, die plötzlich auch in Polen ganz wie Bratwurst schmeckt. „Polen koof ma ooch noch uff, so wie sie es mit Ostdeutschland gemacht haben“, prophezeit ein junger Mann, der mit einiger Schlagseite am Brückengeländer lehnt.

Gut, dass ihn die beiden Studenten aus Katowice nicht verstanden haben, die sich gegenüber an ihre Bierflaschen klammern. „Ach, für uns wird es nur Schwierigkeiten geben. Aber vielleicht schauen wir auch mal rüber.“ Eine Polin scheucht unterdessen ihre Kinder auf die deutsche Seite. „Wir mussten in die Union, wir gehören da rein. Und wir werden kämpfen, schließlich will man ja nicht ewig als Putzfrau abgestempelt sein, die für sechs Euro arbeitet.“

Kurz vor Mitternacht wagt eine Gruppe polnischer Studentinnen einen Blick in die Zukunft: „In zwanzig Jahren werden wir gleichberechtigt sein.“ – „Ach, red nicht, in zehn Jahren“, sagt ihre Kommilitonin. Nach ein Uhr ist die Normalität wiederhergestellt, nur der Wind kommt in dieser Nacht aus Richtung Osten.

In Aurith und Urad hatte der Wind am Freitag beinahe dafür gesorgt, dass die 30 Litfaßsäulen auf den Fähranlegern beider Dörfer in die Oder geweht wurden. Doch dann kamen auf beiden Seiten die Dörfler und schraubten die Aufsteller mit Akkubohrern fest. Sieben Monate hatten Vertrauen geschaffen: das Projekt „Wandzeitung“ der beiden Berliner Steffen Schuhmann und Tina Veihelmann war den Aurithern und Uradern zu sehr ans Herz gewachsen, als dass sie es dem Wind geopfert hätten. Am 1. Mai dann feierten die Bewohner beider Dörfer ihre Wiedervereinigung, zumindest für ein paar Stunden. In denen fuhr ein Boot des Technischen Hilfswerks im Minutentakt über die Oder und wieder zurück. Ehemalige Aurither trauten sich auf die polnische Seite, wo sie vor 1945 gelebt hatten. Polnische Jugendliche schauten sich auf der deutschen Seite um und grüßten etwas schüchtern mit „Dzien dobry“ und „guten Tag“.

Auf den Fähranlegern standen die Alten und kamen vor den Litfaßsäulen mit den Porträts der Urader und Aurither miteinander ins Gespräch, die Jungen tranken auf der polnischen Seite Wodka mit dem Dorfvorsteher. Vielleicht war Europa nirgendwo an diesem Tag greifbarer als hier. Und nirgendwo auch wieder getrennter. Nach dem Ende des provisorischen Fährverkehrs müssen die Urader und Aurither wieder 40 Kilometer fahren, um sich gegenseitig zu besuchen.

ANNA LEHMANN/UWE RADA