Du legst dich mit uns allen an

Wenn am 11. September 2001 das Reale die laufende Fiktionalisierung New Yorks unterbrochen hat, so bietet sich die Stadt heute wieder als Projektionsfläche an. Welche New-York-Bilder entstehen in Filmen wie „25 Stunden“ oder „Spider-Man“?

Das Bild der Stadt im Film war wiederholt Gegenstand peinlicher Kosmetik

von TOM HOLERT

Wie wohnt es sich am Abgrund? Die einen ziehen fort, die anderen mieten sich ein. Während der reale Robert de Niro nach dem 11. September sein Luxus-Loft in TriBeCa verließ, um sich ein 350-Quadratmeter-Appartment am Central Park West einzurichten, residiert eine der Figuren in Spike Lees Film „25 Stunden“ im 44. Stock des World Financial Building, hoch über Ground Zero, mit atemberaubendem Blick hinab auf den Ausgangspunkt des globalen Ausnahmezustands.

Dort oben empfängt der Wertpapierbroker (Bary Pepper) einen alten Schulfreund (Philip Seymour Hoffman). Sie haben sich länger nicht gesehen. Heute sind die beiden verabredet, um sich von einem gemeinsamem Freund zu verabschieden, der am nächsten Tag wegen Drogenhandels für einige Jahre ins Gefängnis gehen wird. Die Männer treten an das Panoramafenster und schauen versonnen auf die Stätte der Verwüstung. Das Katastrophengebiet ist von einem gewöhnlichen Baugrund kaum noch zu unterscheiden. In die Vertikale gelenkt, wird der Blick als spektakuläre Aufsicht strukturiert. Aber außer einigen Baufahrzeugen in der Tiefe gibt es nichts zu beaufsichtigen als die Produktion von Bedeutung. So ist die Aufsicht ein Bild, das sich metaphorisch nutzen lässt. Ground Zero steht hier, diese Lesart drängt sich auf, nicht nur für sich, sondern auch für den Nullpunkt im Leben des Freundes und Dealers, den traumatisierende Erfahrungen hinter Gittern erwarten. „Ein Mann, eine Stadt: In beider Leben klafft dieses schwarze Loch“, formulierte erwartungsgerecht die gehobene Filmkritik.

Mit dem 11. September hat das Reale die laufende Fiktionalisierung der Stadt unterbrochen. Obwohl dieser Einbruch entlang filmischer Modelle organisiert war, kündigte er für einen kurzen Moment den Vertrag zwischen dem New York des Kinos und der Stadt-als-Film der Stadtentwickler auf. Doch inzwischen steht die „Wunde“ im Finanzdistrikt wieder allen möglichen Projektionen und Spekulationen offen.

Am ersten Jahrestag des 11. September moderierte Spike Lee auf dem Kabelsender Showtime die Kurzfilmreihe „Reflections of Ground Zero“. Der Titel war treffend gewählt. Als Institution wie als Medium bietet sich der Film an, die Zäsur, die mit diesem Datum verbunden wird, zu bearbeiten und zu reflektieren. Und Spike Lee war berufen, einen der ersten Spielfilme über das New York nach dem 11. September zu machen. Der Regisseur von New-York-Filmen wie „Do the Right Thing“, „Jungle Fever“, „Mo' Better Blues“, „Crooklyn“, „Clockers“ oder „Summer of Sam“ gehört – wie John Cassavetes, Martin Scorsese, Sidney Lumet oder Woody Allen – zur Schar jener Filmemacher, deren Status als auteur untrennbar mit eben dieser Stadt zusammenhängt.

In „25 Stunden“ schaltete der Stadtfilmer Lee die jüngste Geschichte New Yorks mit der Story seines Antihelden kurz. Die Metropole wird zur vom Schicksal geschlagenen, mit existenziellen Entscheidungen konfrontierten Kreatur. Buchstäblich in einem Verhältnis der „Reflektion“ stehen Stadt und Film zueinander, wenn Edward Norton, die (menschliche) Hauptfigur des Films, vor dem Spiegel einer Herrentoilette die soziale und kulturelle Zusammensetzung New Yorks in einer Hatespeech-Travestie zu vergegenwärtigen sucht.

Doch wer reflektiert hier eigentlich wen? Ist es tatsächlich noch der Film, in dessen Bildern sich die Stadt spiegeln kann? Oder ist die Stadt nicht ihrerseits längst in einer Weise „filmisch“, dass sie dem Film diktiert, welches Bild er von ihr zu verbreiten hat? Unbestreitbar ist der Anteil, den das Kino an der Fabrikation der Fiktion „New York“ hatte. Unbestreitbar ist aber auch der hohe Grad, in dem New York längst selbst wie ein Film organisiert ist. Dass sich die Inszenierung der Terroristen wie ein Special-Effects-Spektakel in einer zur Konsumkulisse virtualisierten Urbanität verstehen ließ, lag nicht zuletzt daran, dass die Inszenierung der Stadt als Medienraum zu einer der zentralen Methoden neoliberalen Stadtmanagements geworden ist.

Zu den wichtigsten Reaktionen auf den 11. September gehört bis heute ein Film, der vor dem Anschlag entstanden ist (und wenige Monate später in die Kinos kam): „Panic Room“ von David Fincher machte auf einen Mikrotrend der Sicherheitsindustrie aufmerksam – die Ausstattung von Luxushäusern mit gepanzerten Fluchträumen. Zudem übersetzte „Panic Room“ im Windschatten der kollektiven Verunsicherung das allgemeine „Trauma“ in kulinarischen Paranoia-Chic. Die virtuose kinematografische Bearbeitung der Angst und ihrer technisch-architektonischen Abwehr ist Finchers allegorisierende Einlassung zum global geführten Kampf um Raumkontrolle.

Das New Yorker Townhouse aus dem 19. Jahrhundert, das Meg Altman (Jodie Foster) für sich und ihre 11-jährige Tochter ausgesucht hat, versinnbildlicht das amerikanische Pioniertum (das Umzugsunternehmen heißt „Mayflower“); in dem luxuriösen Palais mit eingebauter Panikkammer erleben Mutter und Tochter den Einbruch dreier Männer, denen nach dem 11. September unweigerlich die Funktion zufiel, die Bedrohung der Stadt New York durch unberechenbare äußere Kräfte zu verkörpern.

Dass diese Bedrohung sich aber auch auf den Realfilm namens New York bezieht, deutet der Vorspann von „Panic Room“ an. Während die Handlung sich anschließend nachts, in geschlossenen Räumen und bei schwacher Beleuchtung zuträgt, präsentieren diese ersten Minuten eine Abfolge von im hellen Morgenlicht schimmernden Architekturen Manhattans. In die irrealen, weil ganz und gar friedlichen Ansichten der Stadt sind die Lettern der Filmtitelei wie architektonische Elemente eingefügt – gigantischer typografischer Fassadenschmuck, der die Integration von Film-Text und Stadt-Text in Zeiten des fortgeschrittenen City-Brandings anzeigt.

In einer zentralen Szene von Sam Raimis „Spider-Man“ (2002) schweben nicht Buchstaben, sondern riesige aufgeblasene Fantasietiere im Luftraum am Times Square. Verlegte „Panic Room“ die Szene der Bedrohung ins Private, verschwimmen hier die Bilder der Festivalisierung des privatisierten öffentlichen Raums mit Bildern seiner terroristischen Bedrohung. Das Ensemble aus buntem Familienspaß, Explosionen und herabstürzenden Balkonen wird zur Arena für den Kampf zwischen dem Superhelden und seinem Gegner, dem Kobold.

„Spider-Man“, der ja ebenfalls vor dem 11. September abgedreht war, wurde anschließend nachbearbeitet, um sämtliche Einstellungen digital von den Twin Towers zu „bereinigen“ – auf dass die Geschichte durch Abwesenheit glänze. Aber die Figur des Spider-Man gemahnte schon durch seine Wolkenkratzerakrobatik, auch unter Abziehung der legendären, nur aus den Trailern bekannten Sequenz, die sich zwischen den Türmen des World Trade Centers abspielt, ständig an die Gefährdung der Stadt und ihrer Bewohner.

Denn beides scheint eins: Die Katastrophe vom 11. September hat New York vermenschlicht und die Menschen new-yorkisiert. Als Spider-Man im Duell mit dem Kobold vor die unmöglich-tragische Alternative gedrängt wird, entweder eine mit Kindern vollbesetzte Gondel oder seine große Liebe zu retten, lösen sich aus der Menge, die auf der Queensborough Bridge das Geschehen verfolgt, Rufe an den Kobold: „Legst du dich mit Spider-Man an, kriegst du es mit New York zu tun! Legst du dich mit einem von uns an, legst du dich mit uns allen an!“

Nach dem 11. September dient die Personifizierung der Stadt als Instrument einer Rhetorik, die auf die Ängste um die Verwundbarkeit des sozio-urbanen Körpers zielt. Dieser Aspekt verändert das imaginäre Hollywood-New-York. Aber das transformierte Bild wird erneut auf die Stadt zurückwirken. Der Architekt und Filmhistoriker James Sanders hat für sein Buch „Celluloid Skyline: New York and the Movies“ (2001) recherchiert, dass das Studiobild der Stadt in der Vergangenheit immer wieder unmittelbare Konsequenzen für die historische Entwicklung New Yorks hatte. So nährten beispielsweise die Lower-East-Side-Kulissen eines Films wie „Dead End“ von 1937 die Überzeugung, die Straßen in den Slums seien förmlich Brutstätten des Verbrechens. Woraufhin der Abriss ganzer Viertel und der Bau großer Sozialwohnungsprojekte angeordnet wurde.

Aus der Metropole wurde eine vom Schicksal geschundene Kreatur

Die mythischen Artikulationen New Yorks als Stadt von Glamour und Sophistication (in den Art-Deco-Komödien der dreißiger Jahre) oder als Ort „urbaner Gewalt“ (in den Filmen der New-Hollywood-Ära der Siebzigerjahre) waren somit stets auch Anregungen für politische Maßnahmen, welche sich ihrerseits an den Investitionsstrategien der Wirtschaft orientierten.

Die Feststellung, dass zwischen dem kulturindustriell produzierten und dem „realen“ New York eine Wechselbeziehung herrscht, ist dabei so trivial wie triftig. Man kommt nicht umhin, die Kräfteverhältnisse in dieser Beziehung immer wieder neu zu beschreiben, weil gerade auch die offensichtlichen Aspekte dieser Spiegelung die politische Ökonomie der Stadt durchdringen. Nach dem 11. September 2001 galt die Sorge zunächst vor allem dem pietätvollen Umgang mit der Kollektivpsyche der Amerikaner und der Schönheit der Skyline, was wiederholt zu peinlicher Kosmetik des Stadtbilds im Film führte. Inzwischen wird ansatzweise erkennbar, dass sich der Mainstreamfilm auch mit den psychosozialen, politischen und ökonomischen Folgen des Anschlags beschäftigen kann.

Angeblich werkelt Francis Ford Coppola weiterhin an „Megalopolis“, einem Stadtplanungsepos, das Bezüge zum Römischen Reich, zu „Metropolis“ und zum kapitalistischen Heroismus Ayn Rands aufweisen soll. Seit über zwanzig Jahren befasst sich Coppola mit diesem Riesenprojekt über ein heidnisches New York der Zukunft. Über sechzig Stunden Material haben seine Kameraleute während und nach dem 11. September in New York gefilmt. Doch ob jemals die letzte Klappe fällt, ist fraglich.

Spuren einer Reformulierung des New-York-Bildes finden sich dafür bereits heute in den verregneten Post-„Blade Runner“-Stadtabstraktionen von „Daredevil“ oder in Martin Scorseses Urhorden-Urbanität in „Gangs of New York“. Joel Schumachers „Phone Booth“, der demnächst in die Kinos kommt, bringt die Probleme einer wachsenden Überwachungssphäre auf das Spannungsverhältnis zwischen dem Mikroraum einer Telefonzelle am Times Square und dem Hyperraum unsichtbarer tödlicher Bedrohung.

In „Bringing Out the Dead“, einem komplexen, wenn auch unterschätzten New-York-Film von Martin Scorsese aus dem Jahr 1999, erhält man einen wertvollen Hinweis zum Verhältnis der Stadt zum Film. Eine der Figuren liest in Italo Calvinos Roman „Die unsichtbaren Städte“, einer literarischen Sammlung von Porträts imaginärer, möglicher Städte. Diese Städte unterhalb der Sichtbarkeitsschwelle sind das Feld der Filme, die sich der aktuellen Produktion von Übersichtlichkeit verweigern.