Kindheit mit Verdi und Kohle

Erzählen hat keine Konjunktur: Die Theater-Inszenierungen im Sommerprogramm der Ruhrtriennale werden mehr von Rhythmen und Stimmungen zusammengehalten als von den Fäden der Narration

von MORTEN KANSTEINER

Einmal spätpubertäre Ausgelassenheit, bis zum Anschlag. Einmal dumpfe Wut, von Sommerlicht gelindert. Einmal Nervosität, mit Ironie durchsetzt. Da hat die Hauptsaison der ersten Ruhrtriennale, die langsam Richtung Sommerpause ausrollt, bislang ihre Stärken: in den Affekten, Atmosphären.

Die große Ausgelassenheit steht gleich am Anfang des Theaterabends „So was in der Art“: Sechs Schauspieler spritzen enthemmt Bier und Dosensahne, prügeln mit Pappgitarren, glitschen über die Bühne. Nicht unbedingt originell, was Kay Voges vom Theater Oberhausen da inszeniert, aber gleich ist man drin in der Jungsdynamik, aus dem das Stück von Terézia Mora – sie steckt ein paar vernachlässigte Jugendliche in ein Survivalcamp – seine Energie bezieht.

Affekte der Adoleszenz auch bei Alain Platel. Sein Tanztheaterabend „Wolf“, der schon zu Beginn der Festivalsaison Premiere hatte, öffnet eine ganze Galerie der Stimmungen. Zum Beispiel die ziellose Wut: Halb in einer Folie verfangen, stürzt der Tänzer Gregory Kamoun Sonigo auf die Bühne, deutet die Moves der Vorstadt-Breaker an, kraftvoll, entschieden, und doch kann er sich aus dem Plastik nur mit Mühe befreien. Ein Kampf gegen einen Hauch von Hindernis.

Bei „Heliogabal“, einer „Big-Band-Oper“ und Auftragsarbeit für die Ruhrtriennale, bestimmt der Orchesterklang die Atmosphäre: Die Musiker der Flat Earth Society breiten nervöse Flächen aus Bläsersätzen und Percussion aus. Melodien rutschen dissonant ab, Bossa Nova schlängelt sich zwischen Swing, Drum ’n’ Bass bricht sich Bahn.

Beinahe die ganze Komposition von Peter Vermeersch verbreitet dieselbe dichte Unruhe. Auch das Libretto von Thomas Jonigk, eine simple Szenenfolge über Aufstieg und Fall des römischen Kaisers Heliogabal, kann dem Abend keine Richtung geben: schon weil die gesungenen Texte meist unverständlich sind. Da liegt das Risiko: Die schönsten Stimmungen versacken im Vagen oder zerlaufen gar zu Langeweile, wenn sie nicht einer Entwicklung unterliegen.

Bei „So was in der Art“ und vor allem „Wolf“ schafft der Rhythmus den Zusammenhalt: Eine lockere Verbindung, aber sie hält. Die altmodische Methode hingegen, eine Abfolge von Ereignissen zu organisieren, hat bei der Ruhrtriennale keine Konjunktur: Eine zugkräftige Erzählung kommt selten zustande – von Chéreaus „Phèdre“, der Eröffnungsinszenierung, einmal abgesehen.

Paul Claudels „Seidener Schuh“ zum Beispiel ist eigentlich eine Monstergeschichte: Mehr als 300 Buchseiten lang fliehen und lieben sich Don Rodrigo und Doña Prouëza quer durch die Welt der frühen Neuzeit. Aber Stefan Bachmann, der das Stück als Koproduktion der Ruhrtriennale mit dem Theater Basel inszeniert hat, zerkleinert das Ganze, bis es einer Revue ähnelt: handliche Szenenpakete, in verschiedenem Stil eingewickelt.

Im Vergleich präsentiert „Sentimenti“, eine Arbeit der Theatertruppe ZT Hollandia, die am Mittwoch in Bochum Premiere hatte, eine kompakte Geschichte. Sie basiert auf Rolf Rothmanns „Milch und Kohle“. Von dem Roman über eine Ruhrpott-Kindheit in den Sechzigern bleibt auf der Bühne vor allem der Blick auf das Leben der Mutter, im Schnelldurchlauf erinnert von ihrem Erzählersohn. Doch auch hier darf die Narration nicht einfach fließen. Die Regisseure Johan Simons und Paul Koek stauen sie mit Verdi-Arien. Die hat der Erzähler – so muss man die etwas wacklige Konstruktion wohl verstehen – schon als Schüler gehört. Und jetzt, da er zurückdenkt, weichen seine Erinnerungen auf diesen süßen Soundtrack aus, sobald sie an schmerzliche Ereignisse stoßen.

Auch den Text selbst behandeln die Regisseure wie musikalisches Material. Bestimmte Sätze lassen sie häufig wiederkehren: mal in kurzen Abständen, wie eine Phrase innerhalb eines Solos, oder in längeren, wie einen Refrain. Leider lässt sich die Prosa von Ralf Rothmann nicht so leicht in Musik verwandeln.

„Milch und Kohle“ ist eher ein schmuckloser Text, der sich auch mit Verdi nicht so recht verbinden will. Vielleicht hätte man dem Roman besser seinen – narrativen – Lauf gelassen. Aber die Texte haben bei dieser ersten Ruhrtriennale nicht das Sagen. Sie müssen bei den genreübergreifenden Produktionen, die einen Schwerpunkt des Programms bilden, immer wieder gegenüber Körpern und Tönen zurücktreten.

Das Verhältnis könnte sich ändern, wenn Jürgen Flimm ab 2005 die Leitung des zweiten Zyklus der Ruhrtriennale übernimmt. In seiner Biografie nimmt das Sprechtheater – und damit Texte mit starken erzählenden Anteilen – mehr Raum ein als in der Arbeit von Mortier.

Vielleicht wird Jürgen Flimm ja an den Fäden der Narration zurren, wo zurzeit noch die Stimmungen flottieren.