Schwingungen erforscht

Jörn Arneckes Kammeroper „Das Fest im Meer“ auf Kampnagel changiert elegant zwischen Orten, Zeit- und Handlungsebenen und schafft unsentimentale Wechsel zwischen den Stimmungslagen

von ANDI SCHOON

Jörn Arnecke ist ein Komponist Neuer Musik, dem es im doppelten Sinne um „Verständnis“ geht: Er fordert vom Publikum ein gewisses Maß an gutem Willen und bietet ihm im Gegenzug Nähe und Deutlichkeit an. Seine Kammeroper Das Fest im Meer, die jetzt auf Kampnagel Premiere hatte, zeigt, wie Kommunikation auf hohem Reflektionsgrad funktionieren kann.

Das Fest im Meer ist ein subtiles Spiel mit Gleichzeitigkeiten: Die Textvorlage stammt von John Berger, einem englischen Grenzgänger zwischen den Künsten, der heute in Frankreich lebt. Sein Roman To the Wedding (1995) ist eine zersplitterte Konstruktion, die zwischen Orten, Zeiten und Handlungssträngen hin und herspringt. Die junge Ninon (Maite Beaumont) ist HIV-positiv. Noch hat sie es ihrem Geliebten Gino (Moritz Gogg) gar nicht verraten, da machen sich Ninons Eltern schon auf den Weg zu ihrer Hochzeit. Doch die bittere Liebesgeschichte wird permanent von Erinnerungen und Zukunftsphantasien überlagert, und trotz der zentralen Aids-Problematik führen auch die Nebenfiguren ein komplexes Eigenleben.

Nicht gerade die einfachste Vorlage für ein Musiktheaterstück, doch Jörn Arnecke destillierte aus diesem Zeitspiegel eine final ausgerichtete Erzählung, ohne die Zerrissenheit des Originals vollkommen zu übergehen. Der Fokus der Opernbearbeitung liegt nicht auf der Fahrt zur Hochzeit, sondern auf der Hochzeit am Meer selbst, bei der die bis dahin ausgelegten Spuren zu großer Dichte kulminieren.

Christoph von Bernuths Inszenierung lässt der Musik viel Raum: Mit sparsamen Bewegungen zieht es die Figuren zur Küste, analog dazu schält sich im Hintergrund eine riesige Welle aus dem Bühnenbild. Auch die Musik vermeidet radikale Manöver: Behutsam verleiht sie den Personen Charakter. Dabei arbeitet Arnecke nicht leitmotivisch, sondern mit spezifischer Farbgebung – schließlich zählte Gérard Grisey, Hauptvertreter der französischen Spektralmusik, zu Arneckes Lehrern. Hier geht es darum, den Klängen ihr Eigenleben zu lassen, ihren Schwingungen mikroskopisch nachzuforschen.

Das Ergebnis sind impressionistische Zustandsbeschreibungen, die sich hervorragend für einen theatralen Rahmen eignen, bei dem die Psychologie der Figuren wichtiger ist als ihr Handeln. Arnecke hat Bläser und Streicher doppelt besetzt und als „Echo“ auf beiden Seiten des Publikums verteilt. Die Klänge wandern durch den Raum, und auch ein Teil des 17-köpfigen Orchesters erhebt sich gegen Ende von seinen Sitzen, um in das Geschehen auf der Hochzeitsgesellschaft einzugreifen. Im Zusammentreffen der szenischen und musikalischen Stränge entspinnt sich ein exzessiver Sinnesrausch am Abgrund: Zu wiederholten, scharfen Stakkato-Rythmen tanzen die Paare einen Walzer, um kurz zu vergessen. Für Szenen solcher Intensität braucht es ein Orchester wie die Metzmacher-geschulten Philharmoniker (unter Cornelius Meister) und SängerInnen wie Maite Beaumont, die den Wechsel der Stimmungslagen präzise darstellen können, ohne in dumpfes Gefühlskino umzuschlagen.

Jörn Arneckes Oper ist nicht nur eine gelungene Arbeit, sie ist eine Vision von Bewegung in einem starren System, eine Neubewertung der Tradition aus Liebe zu ihr. Bezeichnend, dass dieser Impuls gerade von für E- Musikverhältnisse geradezu Halbwüchsigen ausgeht (Arnecke ist Jahrgang 1973), während geigende Vamps und Klassik-DJs eher den Träumen alternder Plattenbosse und Kultursenatorinnen entspringen. Das Publikum auf Kampnagel wusste es bei den bisherigen Aufführungen zu schätzen, angesprochen, aber nicht für dumm verkauft zu werden.

nächste Vorstellungen: 24.+26.6., 19.30 Uhr, Kampnagel