„Erscheint alle in Massen“

Außer Zärtlichkeiten nichts Besonderes: Eine Ausstellung im Kreuzbergmuseum dokumentiert die Geschichte der Lesben und Schwulen in Kreuzberg und Friedrichshain – „Von anderen Ufern“

von AXEL SCHOCK

Heute und morgen ist es wieder so weit. Die lesbisch-schwule Community Berlins wird mit ihrem traditionellen Straßenfest genau dort feiern, wo man gemeinhin das Herz der Szene vermutet: im so genannten Bermudadreieck zwischen Nollendorfplatz, Motz- und Fuggerstraße – in Schöneberg also. Wenn jetzt die Ausstellung „Von anderen Ufern“ die Geschichte der Lesben und Schwulen in Friedrichshain und Kreuzberg erzählt, rückt sie die kaum geringere kulturelle wie historische Bedeutung dieser anderen beiden Stadtteile für die Lesben- und Schwulenszene ins Bewusstsein.

Rund 120 Jahre Kneipenkultur und Bewegungsprojekte, Einzelschicksale und Emanzipationsbewegung können bei einem Rundgang im Zeitraffer durchlaufen werden. Das erste einschlägige Lokal in Kreuzberg ist um 1880 dokumentiert. Nach dem Ersten Weltkrieg setzte ein wahrer Boom ein. Auf einem großen Stadtplan sind im Kreuzbergmuseum die Kellerkneipen, Tanzsäle und Treffpunkte markiert: An Lokalitäten mangelte es bis zu ihrer Schließung durch die Nazis 1933 wahrlich nicht. In Kreuzberg konnten Schwule und Lesben insbesondere rund um die Alexandrinenstraße und den Waldeckpark von einem Lokal ins nächste stolpern. In Friedrichshain hatten sich im Areal zwischen dem heutigen Platz der Vereinten Nationen und dem Ostbahnhof auffällig viele Szenelokale etablieren können.

Mit Gewerbeanzeigen aus den frühen Homosexuellenmagazinen, die Die Freundschaft, Die Freundin oder Die Fanfare hießen, mit Fotos und Speisekarten ist diese breit gefächerte Szene in der Ausstellung dokumentiert. Da wird zum Kaffeekränzchen im Damenklub Violetta („italienische Nacht mit intimer Lampionbeleuchtung“) und zum „Großen Ball der artigen Kinder“ in den National-Festsälen in der Kommandantenstraße eingeladen („Erscheint alle in Massen, es wird wunderbar“). Gleichzeitig machen die Protokolle der Polizeibehörden aber auch deutlich: So frei und ungezwungen es scheinbar gerade in den Zwanzigerjahren in Berlin zugegangen ist, die Lesben und Schwulen standen ständig unter Beobachtung.

Das setzte sich danach natürlich weiter fort. Ein Spitzel notiert pflichtgemäß in seinem Protokoll über den Frühlingsball des Kegelclubs „Lustige Neun“, der als „homosexueller Weiberclub“ klassifiziert wird: Zum Einschreiten habe es keinen Anlass gegeben. „Außer Zärtlichkeiten, die hier und da an den Tischen versteckt ausgetauscht wurden und die auch während des Tanzes stattfanden, wurde nichts Besonderes bemerkt.“ Dafür aber wieder mal ein Klischee bestätigt: „Getrunken wurde ziemlich viel. Meistens Bier, Kümmel und Sekt.“ Bemerkenswert an dieser polizeilichen Notiz: Sie entstammt einer Gestapo-Akte aus dem Jahre 1940. Was Frauen miteinander trieben, interessierte die Behörden offensichtlich eher am Rande. Solch ein Ball mit rund 300 Lesben konnte problemlos stattfinden. Währenddessen mussten Schwule längst um ihr Leben fürchten und fanden zu tausenden in Arbeits- und Vernichtungslagern den Tod.

Die ausgestellten Dokumente und Objekte erzählen gleichermaßen die Geschichte der Lesben und Schwulen von der Jahrhundertwende bis in die Siebzigerjahre. Was die vergangenen zwanzig Jahre betrifft, begnügen sich die Kuratoren zumeist mit wenigen Objekten und haken die immer breit gefächerte Infrastruktur im Stakkato ab – etwa Lesbenwohnprojekte wie das „Hexenhaus“, Offkultur, Selbsthilfeeinrichtungen und Szenemedien. Und doch kristallisiert sich darin die besondere Stellung von Kreuzberg für die Szene heraus: Kreuzberg als Urstätte der meisten linksalternativen Projekte lieferte das Umfeld und den Nährboden für Institutionen wie das Frieda-Frauenzentrum oder die legendäre „O-Bar“ in der Oranienstraße.

„Homobar“ hatte man seinerzeit dort auf ein Transparent gesprüht und ins Schaufenster gehängt. Das war in den Achtzigerjahren wahrscheinlich wirklich nur in Kreuzberg 36 möglich. „The best bar ever“ hat eine Besucherin, die ganz offensichtlich durch die ausgestellten Fotos wieder an durchzechte, aufregende Nächte erinnert worden ist, in das Gästebuch der Ausstellung geschrieben. Vor zehn Jahren machte die „O-Bar“ dicht und ist seitdem Geschichte: eine ganz private für jeden einzelnen ehemaligen Gast sowie eine öffentliche für den Stadtteil und die Szene. Allein dies ins Gedächtnis zurückzurufen: wie Kneipenkultur zugleich auch soziale Netzwerke bildet und das gesellschaftliche Leben mitbestimmt, ist ein besonderes Verdienst dieser Ausstellung.

Bis 30. 9., Mi.–So. 12–18 Uhr. Kreuzbergmuseum, Adalbertstr. 95 a. Eintritt frei. Der gleichnamige Bild- und Leseband zur Ausstellung ist im Verlag Bruno Gmünder erschienen und kostet 15 €. Zahlreiche Begleitveranstaltungen. Am 25. 6., 19.30 Uhr Rückblick in die Fünfziger- und Sechzigerjahre mit Rosa von Praunheim und seinem Hauptdarsteller Bernd Feuerhelm aus „Nicht der Homosexuelle ist pervers …“