themenläden und andere clubs
: Die Bildungsmisere der Ballonzähler

Wie bereits berichtet, ist die Bildungsmisere kaum noch überschaubar. Und weil Bildung schon bei den Kleinen anfängt, forderte der wackere SPD-Abgeordnete Karlheinz Nolte nun eine Kita-Pflicht für die Kleinsten. Anlass gab dazu offenbar der Umstand, dass nicht nur 80 Prozent der Kinder nicht deutscher Eltern, sondern auch knapp 30 Prozent der Kinder deutscher Eltern bei der Einschulung der deutschen Sprache nicht mächtig sind und außerdem erhebliche motorische Entwicklungsstörungen aufweisen.

Doch kaum kam Noltes Forderung auf den Tisch, fiel Bedenkenträgern ein, dass eine Kita-Pflicht erheblich in das grundgesetzlich geschützte Erziehungsrecht eingreifen würde, wobei jedoch nicht klar wurde, ob motorische Entwicklungsstörungen und miserable Deutschkenntnisse in Deutschland als grundgesetzlich geschützte Erziehungsziele gelten. Man muss sich auch über die Vorteile im Klaren sein. Zum einen wären die Kinder mit einer Kita-Pflicht runter von der Straße – man kann Kinder nie früh genug vor einem Leben auf der schiefen Bahn bewahren. Zum anderen könnten sie später nicht an den wunderbaren Tests teilnehmen, die in Zukunft flächendeckend an Berliner Schulen durchgeführt werden sollen, um den miserablen Bildungsstandard schwarz auf weiß zu dokumentieren. So werden in der nächsten Woche rund 32.000 Zehntklässler und 26.000 Zweitklässler auf ihre Kenntnisse in Deutsch und Mathematik geprüft.

Eine Frage für die Zweitklässler lautet zum Beispiel: Uli und Jakob haben zusammen zwölf Luftballons aufgeblasen. Anna schafft fünf weniger als die beiden zusammen. Beim Aufhängen zerplatzen ihnen insgesamt vier Ballons. Eine Frage kannst du beantworten. Welche ist es? – Wie viele Ballons sind Uli zerplatzt? Oder: Hat Anna mehr Ballons aufgeblasen als Uli? Oder: Wer von beiden Jungen hat mehr Ballons aufgeblasen? Oder: Wie viele aufgeblasene Ballons haben sie jetzt?

Die zuständigen Lehrer halten die Aufgaben allerdings für viel zu schwierig, was insofern einsichtig ist, dass viele Schüler die Frage allein aufgrund von fundamentalen Sprachproblemen gar nicht verstehen. Und wenn schon die tiefere Bedeutung von Wörtern wie „Ballon“, „insgesamt“ oder „Uli“ nicht bei den Schülern ankommt, wie sollen sie dann bitteschön den Aufruf des deutschen Sprachrats verstehen, der vom 4. Mai bis zum 1. August dieses Jahres „Das schönste deutsche Wort“ sucht?

Loriot alias Vicco von Bülow, der gerade für seine Verdienste um die deutsche Sprache den Jacob-Grimm-Preis erhielt, hält das Wort „Auslegeware“ für das schönste, weil es so angenehm korrekt, schlicht und großzügig sei. Wie die immerhin 14-köpfige Jury, der neben dem Schriftsteller Christian Kracht auch der Fußballtrainer Volker Finke, der Popsänger Herbert Grönemeyer und die Literaturkritikerin Sigrid Löffler angehören, entscheidet, ist noch offen. Ebenso wenig weiß man, was mit dem „schönsten deutschen Wort“ geschieht. Wird man es in Gold rahmen, auf T-Shirts drucken oder ihm eine Spezialausgabe des Duden widmen? Der Hauptgewinner wird zu Urlaubszwecken nach Mauritius geflogen, während sich die Zweit- und Drittplatzierten auf literarische Wochenenden im Adlon und Deutschkurse beim Goethe-Institut freuen dürfen.

Wobei man sich allerdings fragen muss, warum jemand, der in dem Wettbewerb um das schönste deutsche Wort auf den zweiten oder dritten Platz kommt, noch einen Deutschkurs nötig hat. Doch vielleicht hat man bei diesem Wettbewerb bessere Chance, wenn man dem Gegenstand ohne Vorbildung gegenübersteht. Das könnte sein und würde ganz deutlich gegen die Kita-Pflicht sprechen. HARALD PETERS