Rote Heringe im Eis

Jedes Schicksal wird sich erfüllen: Patricia Dunckers Roman „Der tödliche Zwischenraum“ vermischt Schauerromantik mit ödipalen, gendertheoretischen und literarischen Dreiecksbeziehungen

von SEBASTIAN DOMSCH

Patricia Dunckers Romane sind nie das, was sie zu sein scheinen. Bei ihrem Debüt „Die Germanistin“ hatte sich ihr deutscher Verlag das so sehr zu Herzen genommen, dass er das Buch unter einem vollkommen irreleitenden Titel herausbrachte. Die angesprochene Zielgruppe hat es gedankt und das Buch fleißig gekauft, auch wenn es eigentlich nicht um eine Germanistin, sondern um einen schwulen Romanisten ging. Und worum geht es diesmal?

Dem ersten Anschein nach um ein ödipales Dreieck, das Freud selbst nicht gleichschenkliger hätte zeichnen können. Der vaterlose Icherzähler Toby ist in einer modernen Amazonenrepublik aufgewachsen, bestehend aus seiner knabenhaft zerbrechlichen, nur fünfzehn Jahre älteren Mutter Isobel, der gewaltigen Übertante Luce sowie deren Geliebter Liberty. Einen Vater hat es nie gegeben und damit auch keine Schranken für das Begehren des Sohnes, der keine Freunde hat und daher ganz auf die Mutter fixiert ist.

Das Dreieck wird bald komplettiert durch Roehm, den neuen Freund der Mutter, ein Mann von riesenhaftem Wuchs und überwältigend männlicher Ausstrahlung. Die Abneigung des Sohnes gegen diesen Eindringling in den emotionalen Luftraum von Mutter und Sohn mischt sich schnell mit einer deutlich homoerotischen Faszination. Roehm selbst sendet ähnliche Signale und nimmt Toby mit ins Schwulenviertel Londons.

Spätestens an dieser Stelle meint man, das von Duncker bekannte Terrain avancierter Gendertheorien erreicht zu haben, wo jede Grenze überschreitbar ist und nichts sicher. Judith Butler goes novel, das hat ja in Dunckers vorhergehenden Büchern auch gut funktioniert, in denen Literaturstudenten ihre Homosexualität entdeckten oder eine Frau Karriere als Mann machte, wie in „James Miranda Barry“.

Doch schon der weitere Verlauf des Herrenabends von Roehm und Toby könnte stutzig machen. Nach der Schwulenbar geht es an Roehms Arbeitsplatz, ein alptraumhaftes Labor in den Eingeweiden eines Forschungsinstituts, in dem genetische Experimente an traumatisierten Tieren durchgeführt werden. Aber Toby, und wohl auch der Leser, sind noch zu verwirrt von Geschlechtergrenzen, um auf solche Signale des Unheimlichen zu achten.

Selbst als Mutter, Sohn und dämonischer Ersatzvater sich in der Oper zusammen ausgerechnet den „Freischütz“ ansehen, wobei Toby ausführlich über den Pakt mit dem Teufel sinniert, glaubt man eher an eine falsche Fährte, gelegt von der trickreichen Autorin, und ist doch schon mittendrin im beklemmenden Schauerroman. Langsam schleicht sich das Bedrohliche in das Leben dieser unbürgerlichen Familie, häufen sich die unerklärlichen Ereignisse, und natürlich kommt der eisige Hauch, der Toby und seine geliebte Mutter anweht, geradewegs aus einer dunklen Vergangenheit.

Wo aber das Bedrohliche wächst, da darf auch das Erhabene nicht zu kurz kommen, darum ragen in der zweiten Hälfte des Buchs die steilen und gewaltigen Granitpfeiler und Eisströme hoch über Chamonix auf. Eine ganze Generation romantischer Dichter aus England hat diese Gegend bereist, um sich von der Majestät der Berge innerlich erschüttern zu lassen, so wie Percy Bysshe Shelley, der hier sein berühmtes Gedicht „Mont Blanc“ verfasste. Seine Frau Mary Shelley ließ den dramatischen Höhepunkt ihres Romans „Frankenstein“ auf dem Mer de Glace stattfinden. Wer bei Duncker genau hinhört, kann in ihrem neuen Roman wörtliche Echos dieser Szene hören. In aller Bescheidenheit huldigt Duncker ihrem literarischen Vorbild. Denn auch Toby und Isobel gelangen nach Chamonix auf ihrer Flucht vor der Polizei oder vor Roehm oder einfach nur vor dem Unheimlichen. Natürlich will es das Gesetz des Genres, dass sie Letzterem dadurch geradewegs in die eiskalten Arme laufen. Jedes Schicksal muss sich erfüllen.

Diese Folgerichtigkeit, mit der die Geschichte unbarmherzig den von zweihundert Jahre alten literarischen Regeln vorgeschriebenen Lauf nimmt und dabei trotzdem überrascht, zeichnet den Roman aus. Patricia Duncker lehrt an der Universität in Wales Literaturwissenschaft, sie kennt das Modell, dem sie nachschreibt, und sie folgt ihm mit großer Genauigkeit, wobei sie bekannte Requisiten wie eiskalte Hände mit zeitgemäßeren wie einer geisterhaften Website vermengt.

Dennoch gelingt es ihr, den Leser immer wieder an der Nase herumzuführen und ihm im rechten Moment den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Das macht ihren Roman mehrschichtig und sowohl als soliden Thriller als auch literarisches Rätselspiel und als psychologische Studie überzeugend.

Patricia Duncker: „Der tödliche Zwischenraum“. Berlin Verlag, Berlin 2003, 296 S., 19,90 €