Schlafes Bühne

Legendär, am legendärsten: Beim Theatertreffen in Berlin wird dem Regisseur Christoph Marthaler und der Bühnenbildnerin Anna Viebrock der „Berliner Theaterpreis“ verliehen. Aber warum?

VON TOBI MÜLLER

„Legendär“ fällt immer, wenn die Rede auf den Regisseur Christoph Marthaler und die Bühnenbildnerin Anna Viebrock kommt. Da ist der „Murx“ an der Berliner Volksbühne, der seit der Spielzeit 1992/93 läuft und läuft. Das Wort kam bei Viebrocks „Wartesälen“, bei Marthalers „Langsamkeit“ auf: legendär. Später dann „Kasimir und Karoline“, Horváths Krisenstück, zu sehen beim Berliner Theatertreffen 1997, wie sowieso fast jedes Jahr ein Marthaler.

Der Zeppelin aus „Kasimir“ wurde zu so etwas wie dem Brummkreisel in Tschechows „Drei Schwestern“, wie ihn Peter Stein in den Achtzigerjahren an der Schaubühne schuf: Ein magic moment in Form eines Requisits, das zur Metapher für all die verschütteten Wünsche avancierte. Super legendär jetzt.

Und wenn im kommenden Juni Marthalers Zürcher Intendanz nach einer vierjährigen amour fou ein Jahr zu früh endet, weiß man schon jetzt, in welcher heroischen Reihe des Widerstands diese Zeit am Schauspielhaus Zürich stehen wird: Erst das Emigranten-Ensemble mitten im faschistischen Europa, dann die paar Monate mit Peter Stein 1969/70, schließlich Marthaler mit Anna Viebrock und – für Zürich am wichtigsten – mit der Dramaturgin Stefanie Carp, 2000 bis 2004. Legendärst.

Das Problem beim Theater von Marthaler und Viebrock ist, dass diese Legenden weder richtig wahr noch richtig falsch sind. Es hält sich zwar stets viel Konkretes vom Leib, wer legendär sagt. Doch das spricht wiederum für die Verflüchtigungen, die Unentscheidbarkeiten oder einfach für die kluge Offenheit dieses Theaters – auch für die ganz konkreten Strategien des Verschwindens, sich aus Verwertungsprozessen auszuklinken. Davon träumen Marthaler-Figuren nämlich oft. Noch öfter werden sie aber brutal zu diesen Träumen gezwungen. Das spiegelt sich in vielen Kritiken: Der poetisierte Ennui an der Welt ist ein beliebter Ton in Marthaler-Besprechungen, selbst oder gerade bei sonst eher kühlen Kritikern.

In einem Punkt unterscheiden sich Marthaler/Viebrock grundlegend von jenen Theatermachern, an denen man die Diskussionen über Generationenunterschiede, das Poptheater, über den gern eingeforderten politischen Gehalt oder über die nicht totzukriegende „Werktreue“ jeweils festzuzurren pflegt. Marthaler/Viebrock verfügen über ein mehr oder minder ähnliches Arsenal an festen Formen, aber sie vollziehen damit kein festes Programm. Nie. Jede Diskussion über sie ist eine Diskussion ausschließlich über sie und nicht über ein so genanntes Phänomen, eine Tendenz oder einen ausgewachsenen Trend. Man darf das jetzt ruhig künstlerische Eigenständigkeit nennen, ohne damit radikale Autonomie zu meinen. Weil: Politisch, bei Stücken meistens sehr texttreu und symptomatisch im Sinne von „auf Verletzungen verweisend“ ist ihr Theater ja immer auch. Auch! Inszenierte Programmheftaufsätze dagegen sind ihre Sache nicht.

Das Legendäre erfährt Wiederholung in Missverständnissen, die vielleicht gar keine sind. Marthaler/Viebrocks Gesellenstück in Deutschland, der berühmte Volksbühnen-„Murx“, evozierte unterschiedliche Orte bei den Zuschauern. Einige sahen nichts als die vergangene DDR: Plaste in den Kostümen: Kunststofftischchen, der ganze heiße Scheiß halt. Andere, die womöglich schon die Arbeiten aus Basel unter Frank Baumbauer kannten, meinten kennerisch: Klar, die Schweiz, lauter skurrile Deppen! Wiederum andere sinnierten, das käme aufs Gleiche heraus – die Schweiz als besser funktionierende DDR, wie Intendant Castorf kalauerte. Doch die allmählich fallenden Buchstaben an der Wand – „Damit die Zeit nicht stehen bleibt“ – übernahm Viebrock 1 : 1 von einer Schering-Werbung im Westberliner Flughafen Tempelhof.

Ob DDR, Schweiz oder Westberlin: Die Missverständnisse sind nur solche, wenn der eine Glaube, die eine Lösung, die eine Lesart absolut gesetzt werden. Damit stürzt man bei Marthaler/Viebrock ab. Deswegen bewegen sie sich mitnichten im Ungefähren. Auch Viebrocks räumliche Recherche in vielen Ländern sind legendär. Und klar zieht Marthalers dunkle Sicht auf „Dantons Tod“, das eben am Theatertreffen zu sehen war, Parallelen zwischen der französischen Revolution und den Utopien von 1968. Zeitbezug heißt bei den beiden nicht Zeitterror, nicht Sinnzwang. Und doch signalisieren Viebrocks hohe Räume, Marthalers Bedächtigkeit und der immer währende Gesang unverkennbar Kirche. Und da darf man auch mal schlafen. Oder von Legenden sprechen und ein wenig jubeln.