Vorhang auf für Hoffnungsträger

Am Wochenende stellen sich zehn Bewerber für die Intendanz des Theaters Lüneburg einem Auswahlgremium. Der neue Intendant muss sparen und zugleich mit ästhetischen Aufwartungen glänzen, die wieder Zuschauer ins Theater locken. Stimmen bezeichnen die Bewerber deshalb als lebensmüde

VON FLORIAN ZINNECKER

Einer hat es sich doch noch anders überlegt. Aber die anderen zehn ausgewählten Bewerber werden sich wie vorgesehen an diesem Wochenende einem Auswahlgremium stellen. Und in ein paar Wochen wird dann feststehen, wer der neue Intendant des Theaters Lüneburg sein wird.

Der bisherige, Jan Aust, lässt sich zum Ende der Spielzeit verabschieden: 18 Jahre wird er dann im Amt gewesen sein, und damit, das findet er selbst, ist es genug. Niemand im Lüneburger Theater versäumt zu betonen, dass es gute 18 Jahre waren. Um dann anzufügen, es sei auch gut, dass sich bald mal etwas ändert.

Insgesamt gingen 98 Bewerbungen ein. Was definitiv nicht an der komfortablen finanziellen Situation des Hauses liegen könne, wie Peter Koch, Lüneburgs Erster Stadtrat und Geschäftsführer der Theater Lüneburg GmbH der taz sagt. Komfortabel ist diese Situation ganz und gar nicht. Und es gibt auch Stimmen, die sagen: Wer in Lüneburg Intendant werden will, der muss schon ein bisschen lebensmüde sein. Das Lüneburger Theater ist das kleinste Dreispartenhaus Deutschlands. Drei Dutzend SchauspielerInnen, 16 SängerInnen, und neun TänzerInnen –dazu Chor und Orchester – stemmen in der laufenden Spielzeit sechs Schauspiel-Premieren, zwei Opern, zwei Operetten, ein Musical und ein Ballett. Ehrliche Arbeit, ohne Skandale, ohne Geschrei. Und mit einem Etat von sieben Millionen Euro. In anderen Worten: fast ein Witz.

Kaum vier Wochen ist es her, dass das Wort „Spartenschließung“ zuletzt durch die Gänge geisterte: Es gab neue Tarifabschlüsse für die Mitarbeiter des Hauses, die nicht aus dem laufenden Betrieb hätten abgefedert werden können. Und, wie es aussah, auch nicht über die Zuschüsse aus Hannover: Seit fünf Jahren sind die jährlichen Zahlungen auf 2,6 Millionen Euro eingefroren. Ab 2011, wenn sämtliche Rücklagen aufgebraucht sind, hätte die Tarifsteigerung ein jährliches Defizit von 400.000 Euro verursacht. „Da wir mit einem unglaublich kleinen Etat arbeiten, wäre das eine Bedrohung, die an die Substanz geht“, sagt Dramaturg Friedrich von Mansberg. „Und dann kann man völlig mechanisch sagen, dann muss eben der Spielbetrieb verkleinert werden.“ Oder eine Sparte geschlossen – das Musiktheater, weil es am schlechtesten läuft. Oder das Ballett, weil es immer noch trendy ist, Ballettabteilungen weg zu rationalisieren.

Der, der das Thema aufgeworfen hatte, ist der Verwaltungsdirektor Wolfgang Dannenfeld. Im Gespräch mit der taz wiegelt er ab: Er sei in einem Interview gefragt worden, wie und wo man denn sparen könne. Er habe Möglichkeiten aufgezählt, wurde zitiert – und seither gilt er als derjenige, der die Spartenschließung in die Debatte geworfen hat. Von Mansberg antwortet auf die gleiche Frage, wo man denn sparen könne, lakonisch: „Gar nicht.“ Wäre das Theater Lüneburg ein größeres Haus, ja, dann gebe es mehr Spielraum – weil mehr Geld für Bühnenbilder oder zusätzliche Produktionen ausgegeben wird und jetzt eingespart werden könne. „Das haben wir hier alles nicht, wir sind hier ziemlich am Ende angekommen. Was uns auch immer wieder von unseren Geldgebern bescheinigt wird. Ihr arbeitet so effektiv, da ist nichts zu holen, heißt es da.“

Stimmt: In guten Jahren spielt das Theater 25 Prozent, in schlechten immer noch 21 Prozent seiner Kosten selbst ein. Im Vergleich zu anderen Häusern ein bemerkenswerter Anteil – das Hamburger Thalia Theater gilt mit 27 Prozent als deutschlandweite Spitze. Die übrige Summe für das Lüneburger Theater, rund 5,2 Millionen Euro, finanzieren je zur Hälfte das Land Niedersachsen und die Theater Lüneburg GmbH, bestehend aus Stadt und Landkreis als Gesellschafter. Stadt und Landkreis waren es auch, die zuerst einsprangen, als das Theater angesichts der Tariferhöhung um Hilfe rief.

Zwischenzeitlich hat auch das Land zusätzliche Mittel bewilligt: Problem gelöst. Für diesmal. Doch es gibt noch mehr Baustellen für den neuen Intendanten. Zuvorderst: das Problem mit den Zuschauern – vor allem mit denen, die nicht kommen. Weil die immer mehr werden und immer mehr Plätze leer bleiben. Im Jahr 2000 kamen noch 104.000 Zuschauer, in der vergangenen Spielzeit waren es 87.500. Diesmal werden es wohl noch weniger sein: die Operette, sonst eine sichere Bank, zündet nicht.

Eine Erklärung gibt es schon: „In den vergangenen 15 Jahren hat sich das Kulturkonsumverhalten radikal geändert“, sagt von Mansberg, „und das Kulturangebot in der Region hat sich enorm vervielfacht“. Dass ein Theater allein mit seiner Existenz Zuschauer ansaugt – davon könne man nicht mehr ausgehen. „Darüber kann man traurig sein oder behaupten, die Kultur würde verfallen – man kann es aber auch einfach feststellen und anfangen, damit umzugehen. Ich wäre da eher für Letzteres.“

Sieben von zehn Zuschauern sind weiblich, die meisten älter als 60. Studenten der Lüneburger Leuphana Universität kamen bis vor kurzem gar nicht. Das soll sich ändern: In Zusammenarbeit mit dem Theater erforscht die Studentin Johanna Hannemann gerade, wo das Problem liegt. Kurz: Es hapert an der Kommunikation – keine Plakate auf dem Campus, keine Flyer, keine Leporellos. Nachdem Hannemann erfahren hatte, dass auch die Preise zu hoch und das Rabattsystem zu kompliziert sei – „Die Studenten können mit dem Semesterticket nach Hamburg fahren und dort günstiger ins Thalia Theater gehen als zu uns“ – regte sie eine 5-Euro-Aktion an. Das Resultat: Binnen vier Wochen kamen 160 Studenten. „Man kann darüber streiten, ob das viel ist oder wenig“, sagt von Mansberg. „Es ist aber ein Vielfaches dessen, was wir bislang hatten.“

Doch Rabatte sind nur die halbe Miete. „Wir müssen auch mal Stücke anbieten, die erstens als Stücke interessant und zweitens auch in ihrer Präsentationsform spannend sind“, sagt von Mansberg. „Es nützt ja nichts, wenn ich mich zu Tode werbe, und die Zuschauer sehen ein Stück, das sie total anödet. Dann kommen die kein zweites Mal.“ Gefragt seien Inszenierungen, die mit aktuellerer Ästhetik aufwarten: „Die Studenten haben sehr viel gesehen, kennen sehr viel: die Art und Weise, wie im Kino präsentiert wird, wie in anderen Theatern präsentiert wird, wie im Fernsehen präsentiert wird. Darauf wird man mindestens mal achten müssen.“

Dass diese Erkenntnis nicht revolutionär ist, ahnt von Mansberg selbst. „Der Grund liegt wahrscheinlich in der erfolgreichen Zeit, die wir hatten. Erfolg macht bequem. Wir hatten in den 80ern über lange Jahre ganz hervorragende Auslastungszahlen. Da geht man natürlich mit Recht davon aus, dass das, was man tut, funktioniert.“ Mit großem Weitblick hätte man vielleicht damals schon dahinter ahnen können, dass das nicht ewig so weiter geht, sagt von Mansberg. „Aber wer hat schon immer diesen Weitblick?“

Eine erste gute Nachricht ist unterdessen schon eingetroffen. Sie steht im ersten Satz der Kritik zur Musical-Premiere, erschienen im Fachmagazin DaCapo. Der lautet: Endlich hat sich mal jemand etwas getraut.