Bei den Hottentotten

Sarah Bartmann, ein Mädchen vom Stamm der Khoi, wurde über 200 Jahre lang in Europa vorgeführt als Stereotyp der Negerin: als rassisch minderwertige Frau. Heute ist sie die widersprüchlichste Ikone des neuen Südafrikas, um die Feministinnen, Farbige und sogar der Präsident streiten. Ein Besuch am Grab von Sarah Bartmann und bei ihren Töchtern

AUS HANKEY UND KAPSTADTROBIN ALEXANDER

Wie die Hottentotten. Haben sie gesagt, wenn wir durch die Kita tobten. Oder unser Kinderzimmer durcheinander brachten. „Wie die Hottentotten“, stöhnen Eltern, die ihren Kindern kopfschüttelnd hinterherräumen, in Deutschland seit zwei Jahrhunderten. Die Hottentotten sind das Chaos. Das Wilde. Das noch nicht Gezähmte.

Und jetzt stehen wir wirklich in Hottentottenland. Von ordentlichen Orangenpflanzungen wandert der Blick über die kleine, symmetrisch angelegte Stadt Hankey. Selbst die Hütten aus Blech und Plastik am Stadtrand scheinen am vorgesehenen Platz. Uns hat eine echte Hottentottin hergebracht – jedenfalls behauptet die 43-jährige Francine Langveldt, eine zu sein. Die Marktforscherin trägt heute statt Business-Kleidung einen Umhang mit Leopardenmuster, ein Stirnband aus Perlen und einen geschnitzten Holzstock. „Vor zehn Jahren hätte ich noch jedem ins Gesicht geschlagen, der mich so genannt hätte. Aber heute sage ich stolz: Ja, ich bin eine Hottentottin.“

Schwarze Venus im Käfig

Hottentotte ist eigentlich ein Schimpfwort, das europäische Siedler für den afrikanischen Stamm der Khoi (auch !xoi, Khoi-San oder Khoi-Khoi) erfanden. Langveldt, die in der Großstadt Port Elisabeth zu Hause ist, hat uns fünfzig Kilometer aufs Land gefahren, um uns zu zeigen, warum das nicht mehr so ist. Jetzt stoppt sie den Wagen vor einer Anhöhe, und wir steigen zu Fuß auf einen afrikanischen Grabhügel, der von einem schlichten Stein gekrönt wird. Unsere Begleiterin liest das Epitaph laut vor: „Hier liegt Sarah Bartmann. Geboren 1789. Gestorben 1815. Begraben 9. August 2002.“ Das Schicksal der Frau, zwischen deren Tod und Beisetzung 187 Jahre vergingen, ist eine Horrorgeschichte aus der Vergangenheit. Neu ist die Bedeutung, die sie für moderne Südafrikanerinnen wie Langveldt gewonnen hat.

Die Khoi waren der erste Stamm, den die Buren in Südafrika vertrieben und versklavten. Bartmann entging als Mädchen dem typischen Khoi-Schicksal, Feldarbeiterin oder Dienstbotin zu werden. Sie war etwas Besonderes. Genauer: Sie hatte etwas Besonderes: einen sehr großen Busen und einen sehr, sehr großen Po. Einen Körper, der sich vermarkten lässt. Nicht im bäuerischen Kapland, sondern in den Zentren der kultivierten Welt: in London und Paris. Sie wurde zuerst in Käfigen ausgestellt und tanzte später spärlich bekleidet auf Varietébühnen. Die „Hottentotten-Venus“ war eine Attraktion. Ein Freak. Geil und gruselig. Aber auch: ein Beispiel für angeblich minderwertigen, ja tierischen Körperbau schwarzer Frauen. Zeichnungen der „Negerin Sarah Bartmann“ erschienen in Zeitungen in ganz Europa, in Standardwerken der Rassenkunde und sogar in Kinderbüchern.

Noch im ausgehenden 20. Jahrhundert meinten französische Wissenschaftler, Bartmanns Knochen, ihr Gehirn und ihre eingelegten Schamlippen sollten Ausstellungsstücke im Museé de l’Homme bleiben. Sieben Jahre verhandelte die südafrikanische Regierung, bis sie die Überreste 2002 mit einem Staatsakt beisetzen konnte. Voll Verachtung zitierte Präsident Thabo Mbeki bei der Beerdigung europäische Denker wie Voltaire, Montesquieu und Diderot als Vertreter einer „barbarischen“ Kultur, die nie aufgehört habe, Afrikaner als Hottentotten zu betrachten.

Ikone der Farbigen

Auf dem Weg vom Grabhügel in die Stadt nehmen wir zwei Landarbeiterinnen mit, die am Straßenrand auf ein Sammeltaxi warten. Sie pflücken Orangen und werden pro Korb bezahlt. Sarah Bartmann ist ihnen natürlich ein Begriff. „Die haben ihr gesagt, sie sei hässlich, weil sie eine große Frau war, a big black.“ Schmal sind die beiden auch nicht gerade, die sich auf unserer Rückbank quetschen. „Aber so sehen wir nun einmal aus – und bei mir hat sich noch keiner beschwert“, feixen sie, als wir sie absetzen. Big black is beautiful.

Dabei ist Sarah Bartmanns Gesicht gar nicht so dunkel. Jedenfalls nicht auf den Erinnerungssteinen, den T-Shirts und den Bierdeckeln, die mit ihrem Konterfei verkauft werden. Ein afrikanisches Gesicht, aber ein helles. 170 Jahre nach ihrem Tod, zwei Jahre nach ihrer Beisetzung, ist Sarah Bartmann zur Ikone der Farbigen in Südafrika geworden. Der Begriff ist schwierig, denn „colored“, farbig, war eine rassistische Kategorie des alten Südafrika. Eine Herkunft, die als peinlich galt: die Frucht verbotener Liebe zwischen schwarz und weiß oder das Resultat nie geahndeter Vergewaltigungen von Dienerinnen. Neun Prozent der Südafrikaner waren colored. Heute ist diese Einteilung offiziell überwunden. „Ach, ja-nie man“, stöhnt Langveldt auf Afrikaans: „Früher waren wir nicht weiß genug, heute sind wir nicht schwarz genug. Dabei …“ – und hier kommt Sarah Bartmann ins Spiel – „… stehen wir gar nicht dazwischen. Denn wir stammen von den Khoi.“ Die früher als Hottentotten beschimpften Khoi werden von immer mehr Farbigen als Vorfahren imaginiert. Tatsache ist: Die Khoi waren – wie die Farbigen heute – heller als die Xhosa, Zulu und Tswane, die heute die Bevölkerungsmehrheit in Südafrika stellen.

Die Coloreds seien gewaltsam von ihrem Erbe abgeschnitten worden, ereifert sich Langveldt. Reconnecting, Wiederanknüpfen, heißt das Projekt vieler Farbiger. Vor allem von Frauen. „Sarahs Geschichte spricht uns an. Sie ist wie eine Mutter für uns“, erklärt Langveldt, die mit der Entdeckung ihres Khoitums eine Lebenskrise nach ihrer Scheidung überwand. Heute lernt sie in einer Gruppe die tote Khoi-Sprache. Gemeinsam reisen die Großstädterinnen aufs Land, um die Geister ihrer Ahnen zu finden.

Lückenloses Lächeln

750 Kilometer weiter westlich, nicht mehr auf dem Land, sondern in Kapstadt, besuchen wir einen schmucklosen Flachbau: eines der wenigen Frauenhäuser in der Millionenmetropole, das Sarah-Bartmann-Centre. Hier arbeiten – ohne Bezahlung – Anet Joubert, 41, und Rachel Pietersen, 29. Vom Ringen der colored community um Identität kündet ihr Lächeln: Beide Frauen haben keine Vorderzähne. Am Kap schlug man vor Jahrhunderten Sklaven die Schneidezähne aus. Daraus entstand eine brutale Tradition: Noch in den Siebzigerjahren entfernten farbige Eltern die Schneidezähne ihrer Kinder, damit sie sich noch deutlicher von Schwarzen unterscheiden.

Ricci Hawekwas Lächeln ist lückenlos. Dem politischen Bewusstsein seiner Eltern verdankt er sein intaktes Gebiss, aber auch eine Kindheit im kanadischen Exil. Heute teilt der 28-Jährige mit den weichen Gesichtszügen und den früh ergrauten Schläfen die Arbeitsschichten im Bartmann-Centre ein. Dann nimmt er uns mit zur nahe gelegenen University of the Western Cape. Dort studiert er und arbeitet nebenbei als Freiwilliger in der Gender Equity Unit. Ein Kerl, der ein Feminist ist. Das ist in der Macho-Gesellschaft Südafrikas noch seltener als im Rest der Welt. Früher hieß Ricci Hawekwa übrigens Richard Pfaff, aber er hat seinen „Sklavennamen“ abgelegt und durch einen Khoi-Namen ersetzt. Natürlich ist ihm Sarah Bartmann wichtig. Ricci sieht die Lebensgeschichte der lang Verstorbenen als eine Allegorie auf das heutige Südafrika. Dessen Sexismus funktioniere immer noch so: „Die weiße Frau wird begehrt, die schwarze Frau wird benutzt.“ Auch schwarze Männer hätten in der kolonial geprägten Gesellschaft diesen Blick auf schwarze Frauen übernommen. Deshalb habe sein Heimatland heute furchtbare Statistiken bei Vergewaltigung und häuslicher Gewalt.

All das habe es vor der Ankunft der Weißen nicht gegeben: „Die Khoi waren matriarchalisch organisiert. Aus ihrer Kultur hätte sich niemals so etwas wie Kapitalismus entwickelt.“ Auf dem Weg zum Campus gibt Ricci zu, dass es auch unter den politisierten Studenten an der Uni Kapstadt nicht viele gibt, die seine Ansichten teilen. Aber einige sind es schon, die ihren Utopien nicht mehr an Marx und Mandela orientieren, sondern an den lange als Hottentotten verfemten Khoi.

Enthusiastisch feierten Ricci und seine Genossen neue Forschungsergebnisse: Die ersten Homo sapiens sollen nicht wie bisher angenommen aus Kenia stammen, sondern in Südafrika gelebt haben. „Die ganze Welt stammt von den Khoi“, doziert Ricci, „warum soll dann auch nicht die ganze Welt von ihnen lernen?“ Er meint: Wenn wir wie echte Menschen leben wollen, müssen wir alle Hottentotten werden.