Vom Auszug der Multis aus Ungarn

aus Székesfehérvár KENO VERSECK

Nina Molnár klopft vorsichtig an die Tür der Sachbearbeiterin. Schüchtern tritt sie ein und nimmt Platz. Nach ein paar Minuten beschäftigt sich die Sachbearbeiterin mit ihr. Sie tippt Nina Molnárs Namen in den Computer ein und sieht dann in der Datenbank nach: Nein, auch heute kein Stellenangebot.

Nina Molnár ist nervös. „So wie jetzt war es noch nie in der Stadt. Früher haben die Unternehmen Leute gesucht und keine gefunden. Viele haben gesagt, für so und so viel gehe ich doch nicht arbeiten. Und jetzt ist es fast unmöglich, einen Arbeitsplatz zu finden. Immer mehr Unternehmen schließen.“

Arbeitsamt Székesfehérvár, eine Kreisstadt in Mittelwestungarn. Nina Molnár ist oft hier in letzter Zeit. Mitte Januar wurde die 38-jährige, allein stehende Frau, die zwei Kinder, 18 und 12, versorgen muss, arbeitslos. Und mit ihr 3.700 andere. Der Computerriese IBM hatte sein Festplattenwerk in der Stadt geschlossen, fast über Nacht. Fast vier Jahre hatte Nina Molnár dort gearbeitet, zuletzt für umgerechnet etwa 420 Euro im Monat. Sie war „sehr zufrieden“ mit der Firma, sagt sie. Nun sucht sie händeringend einen neuen Arbeitsplatz. Doch die Aussichten sind schlecht für Ungelernte wie sie.

Die Wirtschaftswunderstadt

Noch vor kurzem war Székesfehérvár mit seinen 108.000 Einwohnern die Wirtschaftswunderstadt Ungarns. Über 100 ausländische Unternehmen hatten sich hier seit der Wende in Ungarn von 1989/90 angesiedelt, darunter Ford, Philips und Nokia. Die Financial Times reihte die Stadt und ihr Umland vor ein paar Jahren in die Liste der zehn sich am dynamischsten entwickelnden Wirtschaftsstandorte der Welt ein.

Der Schock kam im vergangenen Herbst, als IBM seinen Rückzug ankündigte. Die Nachricht erwischte nicht nur die 3.700 Angestellten und die Stadtverwaltung kalt, sondern ganz Ungarn. Denn IBM war nur der größte Arbeitgeber im Land, der dichtmachte, nicht der einzige. Schon vor IBM hatte bereits Mannesmann in der Nähe von Székesfehérvár ein Autoradiowerk geschlossen und die Produktion nach China verlegt. Andere Konzerne wie Microsoft, Philips und Kenwood folgten dem Beispiel von Mannesmann und IBM. Die ungarische Öffentlichkeit spricht seither vom „Auszug der Multis“. Der Arbeits- und Sozialminister Péter Kiss nannte es: das „IBM-Phänomen“.

Das „Phänomen“ geht weiter. Jüngst lagerte wieder eine Firma ihre Produktion aus: Epcos, eine Firma aus dem westungarischen Szombathely, die in Lohnarbeit Elektronikbauteile für Mobiltelefone herstellt und ihre Zentrale in Deutschland hat. Jetzt sollen diese im billigeren Kroatien gefertigt werden, kündigte die Firma Anfang Juni an.

Es ist das erste Mal seit der Wende von 1989/90, dass Ungarn eine derartig große und lang anhaltende Welle von Firmenschließungen erlebt. Damals machten wegen der Auflösung des „Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW), dem Zusammenbruch der Ostmärkte und der Einführung von Dollar-Abrechnung zwischen den ehemaligen „Bruderländern“ reihenweise ungarische Firmen dicht. Doch dann war es im Land scheinbar unaufhaltsam vorangegangen. Ungarn hatte schon Ende der Achtzigerjahre mit Wirtschaftsreformen begonnen, vor allen anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks. Die Privatisierung der Staatsunternehmen war Mitte der Neunzigerjahre weitgehend abgeschlossen. Ausländische Unternehmen konnten zu attraktiven Konditionen und mit Steuervergünstigungen investieren. Unter allen EU-Kandidaten in Mittel- und Osteuropa ist Ungarn deshalb seit langem Spitzenreiter bei Auslandsinvestitionen. Ausländische Konzerne und Firmen haben seit 1990 rund 22 Milliarden Euro im Land investiert.

Dieser Boom ist nun vorbei. So sieht es jedenfalls József Zimmermann, der Chef des Arbeitsamtes in Székesfehérvár, den die sozialistisch-liberale Regierung nach der IBM-Schließung als Sonderbeauftragten für das Krisenmanagement in der Region um Székesfehérvár einsetzte. „Der Auszug der Multis hat viele Gründe“, sagt er. „Sicher ist, dass in Asien, in China die Arbeitskraft sehr viel billiger ist. Ein Grund ist auch unsere Annährung an die EU, durch die die Multis eine Reihe von Steuervergünstigungen verlieren, die man bisher hier bekommen konnte, die aber in der EU durch die Wettbewerbsgesetzgebung verboten sind.“ Die Welle von Firmenschließungen werde weitergehen, prophezeit Zimmermann, auch bei den Arbeitslosenzahlen sei noch längst die Spitze nicht erreicht.

Die Budapester Wirtschaftsforscherin Judit Hamar, die seit Jahren ausländische Unternehmen in Ungarn beobachtet, sieht die Gründe für das „IBM-Phänomen“ noch tiefer liegend. Sie findet das Wort vom „Auszug der Multis“ übertrieben und spricht von einem einschneidenden Strukturwandel des Arbeitsmarktes, den das Land erlebe.

An der Oberfläche, so Judit Hamar, kämen viele Faktoren zusammen, die für die Welle der Firmenschließungen verantwortlich seien, etwa die weltweite Rezession oder der seit langem starke Forint, der die Exportwirtschaft behindert. Der Verlust von Steuervergünstigungen spiele für die meisten internationalen Konzerne keine große Rolle, weil sie nach Ungarns EU-Beitritt im Mai 2004 andere Investitionsförderungen bekommen könnten, beispielsweise wenn sie sich in strukturschwachen Regionen ansiedelten.

Die Löhne sind zu hoch

Tatsächlich gehe es darum, so Judit Hamar, dass Ungarn inzwischen kein Billiglohnland mehr sei. „Westeuropa hat diesen Prozess durchlaufen, als zum Beispiel in der Textilindustrie nur noch die Arbeitsplätze für Hochqualifizierte blieben und die arbeitskräfte- und lohnkostenintensiven Produktionsphasen ausgelagert wurden“, so Hamar. „Genau dasselbe findet jetzt in Ungarn statt. Es gibt Firmen, die ihre Produktion in die Slowakei, nach Rumänien oder in die Ukraine verlagern.“

In Székesfehérvár ist der Schock vom letzten Herbst inzwischen der Einsicht gewichen, dass das wohl nicht ewig weitergehen konnte mit dem Boom. „Als IBM seine Schließung bekannt gab, hat das die Stadt schlimm erschüttert“, sagt der Kabinettschef im Bürgermeisteramt. „In Wirklichkeit war es übertrieben, die Entwicklung von Székesfehérvár in den letzten Jahren als weltweit mustergültig einzustufen.“

Als erste Maßnahme hat das Arbeitsamt in der Stadt für einen großen Teil der Arbeitslosen von IBM und anderen geschlossenen Betrieben Requalifizierungs- oder Weiterbildungskurse organisiert. Wo sie danach Arbeit finden werden, ist unklar. Die Stadt- und Kreisverwaltung will künftig Dienstleistungen und Handel fördern, ein bisher vernachlässigter Zweig in der Region. Woher sie das Geld dafür nimmt, ist ebenfalls unklar. Immerhin hat die Regierung zugesagt, dass sie demnächst ein städtisches Programm für gemeinnützige Arbeit mitfinanzieren wird, freut sich György Schultz. „Für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger werden wir gemeinnützige Arbeit im Gesundheitsbereich organisieren. Sie können alte, allein stehende Leute betreuen, ihnen Gesellschaft leisten, für sie einkaufen oder ihre Medikamentenversorgung sicherstellen. 70 bis 80 Prozent der Löhne für diese gemeinnützige Arbeit würden aus dem Staatshaushalt bezahlt werden.“

Die Zukunft heißt Bildung

Eine Dauerlösung des Arbeitslosenproblems ist das wohl kaum, das weiß auch György Schultz. Er hofft, dass nicht alle Firmen aus Székesfehérvár abwandern und dass die Stadt neue Investoren gewinnen kann. Mit der Supermarktkette Lidl laufen Verhandlungen über die Ansiedlung eines Logistikzentrums. Eine englische Firma will einen Frachtflughafen bauen. Und nachdem Philips selbst schon ein Werk aus Westungarn nach China verlegt hat, will der Konzern nun in Székesfehérvár ein kleines Bildröhrenwerk neu ansiedeln – das wiederum wird aus Frankreich ausgelagert.

Auch Nina Molnár würde gern bei Philips anfangen. „Ich war einmal da, im März, als sie die ersten Bewerber prüften“, erzählt sie. „Da standen 600 Leute draußen. Fünfzig haben sie reingelassen. Es war unmöglich hineinzukommen. Ich werde es wieder probieren.“

Lange warten kann Nina Molnár nicht mehr. Die Abfindung von 400.000 Forint (etwa 1.650 Euro), die sie im Januar von IBM bekommen hat, ist bald aufgebraucht. Allein für ihre Zweizimmerwohnung muss sie 35.000 Forint (ca. 140 Euro) Miete im Monat zahlen. „Naja“, sagt sie, „irgendetwas Vernünftiges wird mir schon einfallen, und wenn gar nichts mehr geht, werde ich eben Treppenhäuser putzen. Da suchen sie ja noch Leute.“

Für die Wirtschaftsforscherin Judit Hamar ist das der falsche Weg. Ihre Antwort auf die Krise heißt: Bildung. „Viele internationale, aber auch ungarische Firmen beschweren sich schon lange darüber, dass sie keine höher ausgebildeten Arbeitskräfte finden. Wir können die jetzige Arbeitsmarktkrise langfristig nur überwinden, wenn im Bildungsbereich mehr getan wird, und zwar schon von den ersten Klassen an. Bisher haben dabei alle postkommunistischen Regierungen in Ungarn versagt.“