Ein Buch zu wenig

Lauter Geschichten ohne Abschluss: In Paul Austers neuem Roman „Die Nacht des Orakels“ wird die Sackgasse zum Prinzip

VON SEBASTIAN DOMSCH

Man kann sich bei Paul Auster, seit er in den Achtzigerjahren mit seiner New-York-Trilogie international bekannt wurde, darauf verlassen, dass er gut lesbare Texte liefert, die geschickt genug konstruiert und ausreichend dicht mit Anspielungen und selbstreflexiven Rückkopplungen verwoben sind, um ein komplettes literaturwissenschaftliches Seminar ein Semester lang mit Analysefutter zu versorgen. Auch nach zehn Romanen bleibt der Schriftsteller aus Brooklyn ein zuverlässiger Zulieferer von ebenso professionellen wie exemplarischen Darstellungen des postmodernen Dilemmas: nichts sagen zu können, aber weiterreden zu müssen. Er ist ein überaus fleißiger Produzent, ist doch das Schreiben für ihn längst keine Frage des freien Willens mehr, sondern eine Frage des Überlebens.

Vielleicht ist es die Kombination aus zwanghaftem Schreiben und grundsätzlicher Skepsis gegenüber den Möglichkeiten des Erzählens, die seine neueren Romane, bei aller Hochachtung vor ihrer Könnerschaft, in letzter Konsequenz zu einem unbefriedigenden Erlebnis macht. Wo kein neuer Stoff eingefüttert wird, da droht auch der besten Schreibwerkstatt der Leerlauf, und die Selbstthematisierung dieses Leerlaufs, wie in seinem neuesten Roman, „Nacht des Orakels“, in dem die Sackgasse zum Prinzip wird, darf allenfalls als Zwischenlösung gelten.

Was Auster auf jeden Fall zu bieten hat, ist Form, schließlich ist er ein Meister in der Aneignung von Genres. In seiner längst zum Kanon der Postmoderne gerechneten Trilogie bediente er sich auf kunstvolle Weise der Kriminal- und Detektivgeschichte, ein anderes Mal war es die Dystopie. Die Farbgebung, die über der „Nacht des Orakels“ liegt, ist, neben Anleihen bei Hitchcocks „Fenster zum Hof“, deutlich die des romantischen Schauerromans, der gothic novel. Die Rolle der verfolgten Unschuld übernimmt der Erzähler und Protagonist, natürlich ein Schriftsteller aus Brooklyn, dessen weitgehende Passivität bereits mit dem ersten Satz deutlich gemacht wird: „Ich war lange Zeit krank gewesen.“ Die mühsame Rekonvaleszenz von Sidney Orr bietet Auster gleich zu Beginn die Gelegenheit für die Urszene seines Erzählkosmos, in der ein Mann, ganz ohne Ziel, durch die Straßen von New York wandert, ein Stück menschliches Treibholz im urbanen Fluss, ein Dead Man Walking. Nur wer auf diese Art gänzlich planlos vorgeht, wird auf unerhörte Begebenheiten stoßen und schicksalhafte Begegnungen machen. Orr entdeckt einen mysteriösen chinesischen Papierwarenladen, in dem er ein portugiesisches Notizbuch findet, das wie von selbst eine Kettenreaktion ineinander verschachtelter Erzählungen auslösen wird. Mit dem Buch findet Orr aus seiner Schreibblockade heraus, aber es entrückt ihn auch der Welt; seine Verankerung in der Realität, seit dem Beinahetod im Krankenhaus ohnehin nicht die festeste, beginnt sich zu lockern. Ähnliches gilt für den Leser, dem Orr nicht nur seitenlange Fußnoten zumutet, sondern den er auch in ein Chaos aus angefangenen und abgebrochenen Geschichten verwickelt.

So fängt Orr damit an, innerhalb seiner eigenen Erzählung einen Roman zu skizzieren, der eine kurze Szene aus Hammetts „Malteser Falke“ als Ausgangspunkt nimmt. Darin geht es um einen ebenso fiktiven Roman, dessen Titel „Nacht des Orakels“ mit dem von Austers Roman identisch ist. Nebenbei gibt es noch ein reichlich sinnloses Treatment für eine Verfilmung der „Zeitmaschine“ von H. G. Wells und einen weiteren Bericht über eine nie veröffentlichte Erzählung. Nichts davon wird hinreichend ausgeführt oder abgeschlossen, denn Geschichten, das möchte Auster verdeutlichen, sind ein sich ständig selbst gebärender Prozess ohne Ergebnis.

Möglicherweise hätte er diese Erkenntnis radikaler auf seinen eigenen Text anwenden und ihn ebenso in der Sackgasse enden lassen sollen wie die Binnenerzählungen. Alles scheint zuerst darauf hinauszulaufen, wenn in der zweiten Hälfte des Romans die Atmosphäre immer düsterer wird und das Gefühl der Bedrohung allgegenwärtig, wenn Orr alle Sicherheiten wegbrechen und er um das, was ihm auf der Welt am wichtigsten ist, bangen muss: die Liebe seiner Frau Grace. Dann aber zaubert Auster ein Finale aus dem Hut, das ungelenk aufgesetzt wirkt: Die Konstruktion seines Romans, die er davor mit so großer Könnerschaft manipuliert hatte, beginnt auf einmal ganz unprofessionell zu ächzen.

Schon immer steckte hinter dem Stierkopf des Minotaurus im Zentrum von Austers Erzähllabyrinthen eine Maske mit dem Gesicht des Autors selbst, und dahinter stecken vielleicht weitere, wie in „Stadt aus Glas“, wo ein Schriftsteller namens Quinn einen Detektiv namens Auster besucht, der sich als Schriftsteller entpuppt. Jedes seiner Bücher ist auf diese Art persönlich, immer wieder kann er nur von sich erzählen und sich doch nie selbst erkennen. In „Nacht des Orakels“ setzt er diese Tradition fort und knüpft dabei an das romantische Doppelgängermotiv an. Denn Orr hat einen väterlichen Mentor, den berühmten Schriftsteller Trause (ein Anagramm für „Auster“), im selben Alter wie dieser. Wie durch ein Prisma zergliedert Auster Elemente seines eigenen Lebens in verschiedene Figuren und Ereignisse, die auf eine Katastrophe zusteuern. Bis jetzt hatte Auster die Reihe der Masken noch nie so weit gelüftet. Sein neuester Roman, der als metafiktionale Routinearbeit beginnt, endet überraschend mit dem schmerzhaften Einbruch der Realität. Beide Teile aber wollen nicht so recht zueinander finden. In diesem Buch der Geschichten ist eine zu viel, denn ihr hätte Auster, anders als den vielen Skizzen, Fragmenten und Anekdoten, ein eigenes Buch gönnen sollen.

Paul Auster: „Die Nacht des Orakels“. Deutsch von Werner Schmitz. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2004, 286 Seiten, 19,90 Euro