Suche nach dem Imperator des Urwalds

In den Urwäldern um den Nationalpark Białowieźa am nordöstlichen Rand Polens erlebt man eine Flora und Fauna wie nirgendwo sonst in Europa. Ein zwei Meter hoher Metallzaun trennt Polen von Weißrussland – er hindert Wisente, Elche, Wölfe und Hirsche am freien Grenzübertritt

Seit 1921 ist die Kernzone des Waldes als Naturreservat geschützt Der Tourismus gilt im Nordosten Polens als möglicherweise einzige Zukunft

von VERENA KERN

Wir biegen mit unseren Fahrrädern vom Waldweg ab auf eine asphaltierte Straße. Etwa vier Meter breit ist sie, schnurgerade und in einem so tadellosen Zustand, als sei sie erst gestern fertig gestellt worden. Ein Schlagbaum teilt die Straße, ein schlichtes Schild untersagt den Durchgang. Es ist die polnisch-weißrussische Grenze, übrigens auch die Ostgrenze der Nato.

Die Straße führt tief hinein in den weißrussischen Teil des Urwalds, der größer ist als der polnische (870 und 620 Quadratkilometer) und zwischen den beiden Weltkriegen zu Polen gehörte. Hier, auf der schlaglochfreien Trasse, sagt Kasia, pflegt Alexander Lukaschenko, der autokratische Präsident der GUS-Republik, sein liebstes Hobby: Rollschuhfahren. Kein Wunder sei es also, dass die touristische Nutzung des Urwalds auf weißrussischer Seite kaum entwickelt ist.

Die Schote spiegelt viel von der Ambivalenz, die für Grenzregionen typisch ist. Einerseits ist die Teilung dieses einzigartigen Ökosystems, dessen jeweilige Nationalparks den Status eines Biosphärenreservats und Weltnaturerbes der Unesco genießen, unsinnig. Aus der Sowjetzeit existiert noch ein zwei Meter hoher Metallzaun. Er behindert, wie Bogdan Jaroszewicz, Vizedirektor des polnischen Nationalparks, klagt, die Wanderbewegungen der größeren Wildtiere – Wisente, Elche, Wölfe, Hirsche und so weiter. Und wenn Polen im nächsten Jahr in die EU aufgenommen wird, dann wird die Grenze auch für Menschen noch undurchlässiger.

Andererseits kann es den Tourismusanbietern auf polnischer Seite nur Recht sein, wenn Weißrussland, dessen Urwaldhälfte noch urwüchsiger sein soll, auf diesem Gebiet nicht in Frage kommt als Konkurrent. Denn der Tourismus gilt im Nordosten Polens als große und möglicherweise einzige Zukunft der Region.

Wer den letzten Urwald Europas erkunden will, mietet sich am besten in dem Örtchen Białowieźa ein, direkt am Rand des Nationalparks gelegen. Das 2.000-Seelen-Nest wird gerne als „Urwalddorf“ bezeichnet. Es besteht aus kaum mehr als einer ziemlich langen Straße, an die sich kleine Häuschen, oftmals aus Holz und mit leuchtend rubinroten Dächern, schmiegen. Einige bieten Ferienzimmer an. Es gibt eine Schule, mehrere Kirchen, Krämerläden, eine Bar. Am Ende der Straße thront auf einer Anhöhe das Dreisternehotel Białowieski, in dem neben unserer fünfköpfigen Reisegruppe vor allem deutsche und britische Vogelfreunde wohnen, die im und um den Urwald bis zu hundert verschiedene Vogelarten am Tag erspähen.

Für unseren zweiten Tag hat uns Kasia einen Waldführer organisiert. Nur so ist es erlaubt, das so genannte Totalreservat, das mit 47 Quadratkilometern knapp die Hälfte des Nationalparks umfasst, zu betreten. Als symbolische Tür zum Wald fungiert ein Eichentor aus den Dreißigerjahren, das auch an die Lagertore der Nazis erinnern kann. Plötzlich sind wir also drin. Und laufen und laufen. Und hören Teodor Iganovicz zu, der schon seit dreißig Jahren Besucher durch den Wald führt (eine Stunde in fremder Sprache kostet 50 Złoty, umgerechnet 12,50 Euro). Teodor Iganovicz kennt so ungefähr jeden Baum persönlich.

Der natürliche Tieflandwald ist ein Mischwald, Laubbäume dominieren. Es ist still, nur Vogelstimmen sind zu hören. Von Undurchdringlichkeit kann keine Rede sein. Die Urwaldbäume werden mehrere hundert Jahre alt und bis zu 50 Meter hoch, entsprechend viel Platz brauchen sie. Der Boden ist bedeckt von Blättern, Gräsern, Blumen und modernden Baumstämmen. Iganovicz zeigt auf eine vierhundertjährige Eiche. Würde man den Baum zu Furnier verarbeiten, sagt er, brächte das 50.000 Euro oder mehr. Doch kein Baum wird gefällt oder neu gepflanzt, so genannte Schädlinge wie der Borkenkäfer werden nicht bekämpft. Kein Mensch greift ein. Seit 1921 ist die Kernzone des Waldes als Naturreservat geschützt und wird seitdem sukzessive erweitert.

Ausnahmsweise dürfen wir den festgelegten Weg verlassen und dringen noch tiefer in die Wildnis. So leise wie möglich stolpern wir über Äste, Wurzelwerk und sumpfige Stellen, immer in der Hoffnung, doch noch einen der scheuen Wisente zu Gesicht zu bekommen. Die im Ersten Weltkrieg schon ausgerottete Bisonart ist seit 1929 erneut gezüchtet und renaturiert worden, inzwischen leben wieder 600 Exemplare im Wald. Doch um den „Imperator des Urwalds“ und Symboltier der Region zu sehen, fahren wir am nächsten Tag ins nahe gelegene Schaugehege.

In der Großregion Podlasien, südlich von Masuren, liegen neben dem Urwald von Białowieźa auch die Nationalparks um den Fluss Narew und die Biebrza-Sümpfe. Regionalhauptstadt ist Białystok mit 300.000 Einwohnern. Rundreisen können über Nature Travel gebucht werden. Die Reiseleiterin Kasia Koslinska ist zu erreichen unter Telefon +48 501 742901 oder per Mail unter k_koslinska@interia.pl