Der Asyl-Pfarrer

von SYLVIA MEISE

Karg ist es bei Flüchtlingspfarrer Friedrich Vetter, auch wenn er leckeren Kuchen serviert. Viel freie Fläche, wenig dekorativer Schnickschnack. Eben ein Männerhaushalt, könnte man sagen, denn Vetters Sohn, 27 und Meteorologiestudent, wohnt auch hier – aber das trifft es nicht. Die Kargheit ist nicht nachlässig, eher Ausdruck protestantischer Geradlinigkeit.

Diese Geradlinigkeit begleitet Seelsorger Vetter, 60, jeden Tag von seiner Wohnung in einem Mainzer Vorort aus nach Ingelheim in die „Gewahrsamseinrichtung für Ausreisepflichtige“ – kurz GfA oder Abschiebeknast. Dort hat er auch ein Büro, und beim Anblick der Zellen mit klinikgrünem Fußboden und anstaltsgrauem Mobiliar erkennt man leicht den Unterschied zwischen Kargheit und Lieblosigkeit. Hier strömt Vetters Gesprächsraum geradezu anheimelnde Atmosphäre aus. Und sei es nur wegen der Kerze auf dem Tisch und dem Rosenklebebild am Fenster. Dass hier abgehört wird, glaubt er nicht.

Sein Gefühl für Atmosphäre hilft auch bei der Ausländerbehörde. Als Vermittler ist er diplomatisch und unnachgiebig zugleich. Der Erfolg hänge davon ab, „ob man ein Lebensschicksal so vorstellen kann, dass ein rechtlicher Weg sichtbar wird“. In 13 Jahren Asylverfahrensberatung hat er viel Erfahrung gesammelt. Vor Änderung des Grundgesetzes, erinnert er, sei es „viel einfacher gewesen, etwas für die Flüchtlinge zu erreichen“. Der drastische Rückgang der Flüchtlingszahlen spricht für sich.

Der Anwalt und Berater

Früher bearbeiteten die Behörden zuerst den Asylantrag, jetzt recherchieren sie erst, woher der Flüchtling kommt, damit man ihn möglichst schnell in diesen sicherlich sicheren Drittstaat zurückschieben kann. Diese Drittstaatenregelung war der Knackpunkt der Änderung des Asylrechts – seit 1. Juli 1993 ist sie in Kraft. Schon damals urteilten Flüchtlingsinitiativen und Seelsorger wie Vetter, es sei faktisch die „Abschaffung des Asylrechts“.

„Als Christ bin ich für Flüchtlinge in erster Linie Anwalt und Berater“, diesem Grundsatz entsprechend ist der Seelsorger ständig unterwegs. Sein Arbeitstag beginnt oft schon vor sieben und endet nicht selten gegen elf Uhr: Gefangene besuchen, bei der Ausländerbehörde vorsprechen, sich mit Flüchtlingsräten und Arbeitskreisen treffen. Gerade war er zudem eine Woche mit Gefängnisseelsorgern in Frankreich: Über den Tellerrand gucken, „damit man kein Fachidiot wird“. Und nebenbei rauskriegen, wie es die Franzosen mit der Abschiebehaft halten. „Der rote Faden in meinem Leben? Menschen in Not helfen und mit ihnen eine Zukunftsperspektive entwickeln.“ Vetter wirft einen Blick aus dem Terrassenfenster: graue Steinplatten, ein wenig trockene Rosenkübel, dazwischen Schnittlauch. Der ist frisch gestutzt, damit er nicht überhand nimmt, aber nur ein bisschen, denn „man soll nichts ausrotten, was man vielleicht noch mal gebrauchen kann“.

Vom Umgang mit Flüchtlingen kann der hagere Mann mit dem weichen, aber bestimmten Händedruck viel erzählen. Daher laden ihn Schulen oder Konfirmandengruppen regelmäßig ein. Zu solchen Terminen bittet er Flüchtlinge mitzukommen. „Wenn die selber erzählen, geht es den Zuhörern viel eher unter die Haut, als wenn ich über sie rede.“ Wenn Vetter gar nicht an Flüchtlinge denken will, geht er Skifahren. Mit Sohn, allein oder in einer Gruppe, wenn möglich dreimal im Jahr.

Wohin auch immer, das kleine rote Auto ist ständig on Tour, jetzt wieder Ingelheim, Vetter parkt ein und blickt nach oben. Gut fünf Meter hoch ist die Betonwand, die den Blick auf eines der bestgesicherten Gefängnisse Deutschlands verstellt.

Wer ihn zu diesem Arbeitsplatz begleitet, etwa ein Dolmetscher oder Besucher, muss seinen Pass abgeben. Auch Handy und Bauchtasche müssen draußen bleiben. Ein Hochsicherheitstrakt, dessen Herz ein Computer ist. Die zentrale Schalteinheit wacht über Öffnen und Schließen der Türen, ihre digitale Augen zoomen durch die Gänge. Ob im Verwaltungs- oder Haftgebäude: alle müssen ständig Personenschleusen passieren – das sind zwei Türen, von denen sich die zweite erst öffnet, wenn die erste schon wieder zu ist und man drinnen in der Falle sitzt. Begleitet von einem Wachmann gelangt man mit Pfarrer Vetter zum Chef. Anstaltsleiter Klaus-Rudolf Hütter sieht aus seinem Fenster ein Fetzchen Himmel und Stacheldraht.

Bei Gesprächen in seinem Zimmer versinkt man in rotem Leder. Hütter ist stolz auf die Technik, „theoretisch kommt hier niemand raus“. Den Häftlingen würden viele Angebote gemacht, damit sie ihren Frust abbauen könnten: Tischtennis, Fußball und Krafttraining, Gespräche oder Projekte beim sozialen Dienst. Während Hütters Rede bleibt Vetters Gesicht unbewegt. Die beiden kennen sich aus vielen Gesprächen, man setzt üblicherweise auf Kooperation. Aber in Punkten, bei denen der Pfarrer eine eigene Meinung hat, fetzt es auch. Etwa beim Einschließen der Häftlinge, obwohl alles x-fach abgesichert ist. Über 20 Stunden würden sie in die Zellen gesperrt, moniert der Seelsorger. Stimmt nicht, kontert die Anstaltsleitung, die Mienen verhärten sich, der Ton wird rau. Das kann Vetter aushalten, er weiß schon, was unbeliebt ist. Seine Argumente passen nicht zum eingefahrenen Sicherheitsdenken der Landesbediensteten. Ihre nicht zu seiner Vorstellung eines freien Christenmenschen.

„Die Leute fühlen sich behandelt wie Schwerverbrecher, das macht sie aggressiv.“ Selbstverletzungen, Beschimpfung des Personals und auch Schlägereien seien die Folge. Würde man die Türen öffnen, würde sich auch die Aggression mindern. Mit Mühe lächelt man nachsichtig. Der Herr Pfarrer ist ja nicht für die Sicherheit verantwortlich. Das Wegschließen sei ein Muss, finden die Hardliner. Und das, obwohl ein halbes Jahr lang in Ingelheim die Türen zum Test offen waren und nichts passierte.

Auch Öffentlichkeitsarbeit gehört zu Vetters Job, dabei versucht er immer „dem Flüchtling ein Gesicht zu geben“. Damit es nicht mehr nur der namenlose dunkelhäutige Fremde ist, sondern die Raja oder der Witali von nebenan, die eine Geschichte haben.

Zum Beispiel Perica. Der staatenlose Zigeuner ist 31 und sitzt seit einer Woche in Ingelheim. Seine Eltern sind jugoslawische Roma, geboren wurde er in Österreich. In Jugoslawien bekam er keinen Pass und in Österreich auch nicht. Nun hat er in Deutschland Asyl beantragt. Mit seiner Frau, die er mangels Papieren nicht hat heiraten dürfen, hat er sechs Kinder. Die gehbehinderte Mutter hat Bleiberecht in Deutschland, die Frau soll mit den Kindern nach Jugoslawien abgeschoben werden, er nach Österreich. „Das sind Fälle, wo ich Bauchweh kriege, wenn man Familien auseinanderreißt“, sagt Vetter grimmig. Er schreibt sich die dürftigen Hinweise auf. Vielleicht kann man doch noch etwas erreichen. Morgen wird er das Innenministerium in Österreich nerven. Und bei der Caritas in Wien herumfragen. Inzwischen versucht er Perica das Gefühl zu geben: Bleib ganz ruhig, jemand kümmert sich um dich.

Nicht wenige nämlich bekommen ob der nutzlos vertanen Zeit und der Trennung von ihren Familien einen Zellenkoller. Unglaublich, sagt Vetter, „was die für Kräfte entwickeln“. Am Ende sei die ganze Vierzehnquadratmeterzelle verwüstet. Solche „Tobsuchtsanfälle“, wie Anstaltsleiter Hütter das nennt, werden natürlich bestraft. Die Verzweifelten kommen in die „Separationszelle“, die nur eine Matratze enthält.

Wenn Vetter von seiner Arbeit spricht, sagt er immer „wir“. Es sei die Zusammenarbeit mit den Asylarbeitskreisen aus der Region, in der er seine Bestätigung, seinen Austausch und seinen Rückhalt finde. „Allein wäre ich oft auf ganz schön verlorenem Posten – und wahrscheinlich depressiv.“

Was ein Flüchtlingsseelsorger braucht? Gute Freunde, die mit einem kämpfen, Rückhalt in der Kirche und in den Gemeinden – die mal eine Kollekte übergeben oder eine Unterschriftenliste herumgehen lassen – und viel Geduld. Könnte er zaubern, würde Pfarrer Vetter dafür sorgen, „dass wir keinen in einen Folterkeller zurückschicken“.